von Wolfgang Hochwald
In seiner 2016 erschienenen Autobiographie „Born to Run“ beschreibt Bruce Springsteen, der am 23. September 70 Jahre alt wird, die Musik, die ihn als Heranwachsenden besonders angesprochen hat: „Anhaltendes Interesse fand ich schließlich an Platten, auf denen die Sänger gleichzeitig fröhlich und traurig klangen. […] Platten, die Kummer und Freuden des Alltags wachriefen.“
Dies beschreibt recht gut Springsteens eigene Lieder, die er seit 1973 auf bislang 19 Studioalben und mehreren Live-Mitschnitten veröffentlicht und in unzähligen Konzerten vor einem stetig wachsenden Publikum gespielt hat. Lieder, in denen er oft Geschichten über die Verlierer der Gesellschaft erzählt, die entgegen aller Erwartung ihre letzte Hoffnung noch nicht aufgegeben haben. Die musikalische Bandbreite seiner Songs reicht von karg instrumentierten Balladen bis zu Rockstücken, in der Springsteens Band, die „E Street Band“, ihre volle Palette von Klavier, Keyboard, drei Gitarren, Bass, Schlagzeug, Saxophon – zudem oft unterstützt von Geige und weiteren Bläsern – ausspielen kann.
Die Zusammensetzung der „E Street Band“ ist seit fast 45 Jahren unverändert, bis auf zwei Verluste durch Todesfälle: Keyboarder Danny Federici starb 2008 mit 58 Jahren an Krebs und der legendäre und das Bild der Band prägende Saxophonist Clarence Clemons 2011 im Alter von 69 Jahren. Dennoch und trotz des fortgeschrittenen Alters aller Akteure ist die Energie, die Springsteen und seine Band auf die Bühne bringen, ungebrochen, auch weil es seit jeher Springsteens Anspruch ist, dem Publikum einen echten Gegenwert für sein Eintrittsgeld zu geben. So erfüllt er seit einigen Jahren Publikumswünsche, die die Zuschauer auf Plakaten hochhalten und nicht selten machen die spontan ausgewählten Lieder bis zu einem Viertel des Abends aus. Somit ist kein Konzertabend wie der andere und im Laufe einer Konzerttour spielt die Band an die 100 verschiedene Songs.
Tom Morello (Gitarrist von „Rage Against the Machine“) hatte vor der Springsteen Tour 2013/14, bei der er als Gastmusiker dabei war, mehr als 200 Songs aus dem Springsteen Repertoire eingeübt. Um dann doch einmal passen zu müssen, als Springsteen mitten im Sommer aus dem Publikum „Santa Claus Is Coming to Town“ auswählte. Die Band ist mindestens drei Stunden nonstop auf der Bühne, der offizielle Rekord wurde im Juli 2012 in Helsinki mit 38 Songs in vier Stunden und sechs Minuten aufgestellt. Darin enthalten sind noch nicht einmal die 5 Stücke, die Springsteen lange vor Konzertbeginn alleine auf der Bühne spielte, als die ersten Zuschauer das Stadion betraten.
Die größte Zuschauerzahl dürften „Bruce Springsteen and the E Street Band“ am 19. Juli 1988 im damaligen Ost-Berlin gehabt haben. Das von der FDJ organisierte Konzert haben nach Schätzungen bis zu 300.000 Zuschauer erlebt und ähnlich wie 1969 in Woodstock mussten die Veranstalter ab einem bestimmten Zeitpunkt die Tore öffnen und alle Besucher mit oder ohne Ticket (Preis 19,95 M + 0,05 M Kulturabgabe) auf das Konzertgelände auf der Radrennbahn in Weißensee lassen. Dabei wäre das Konzert fast nicht zustande gekommen, stand in Gefahr von den Offiziellen abgebrochen zu werden. Zunächst hatte Springsteen, der nie politisch vereinnahmt werden wollte, sich darüber geärgert, dass die FDJ auf die Tickets ohne Absprache „Konzert für Nikaragua“ gedruckt hatte. Springsteen wollte daraufhin – so Erik Kirchbaum in seinem Buch „Rocking the Wall“ – auf der Bühne eine Erklärung abgeben, dass er nach Ost-Berlin gekommen sei, um Rock’n’Roll zu spielen und er hoffe, dass „eines Tages alle Mauern fielen“. Als sich dies im Backstage Bereich während des Konzertes herumsprach, machte sich unter den westdeutschen Konzertveranstaltern eine gewisse Panik breit. Springsteens langjähriger Freund und Manager Jon Landau besprach daraufhin mit Springsteen neben der Bühne, eine offene Konfrontation mit der DDR-Regierung zu vermeiden und das Wort „Mauern“ durch „Barrieren“ zu ersetzen. Die Zuschauer werden dennoch genau verstanden haben, was Springsteen meinte, zumal er direkt nach seiner kurzen Ansprache Bob Dylans „Chimes of Freedom“ (Glocken der Freiheit) spielte. Auch wenn man diese Episode im Zusammenhang mit dem Mauerfall nur 16 Monate später nicht überbewerten sollte, so war es doch das erste Mal, dass sich ein Künstler aus dem Westen in der Hauptstadt der DDR konkret gegen die Mauer aussprach.
Springsteen ist nie ein explizit politischer Künstler gewesen und dennoch ziehen sich durch seine Karriere immer wieder Stellungnahmen, Aktionen und Lieder, mit denen er versucht hat, politischen Einfluss zu nehmen. Im US-Wahlkampf hat er sich mehrfach für demokratische Kandidaten eingesetzt, insbesondere für Barack Obama. Dabei begann seine politische Bewertung mit einem großen Missverständnis: Ronald Reagan lobte Springsteen während seiner Wiederwahlkampagne für dessen 1984er Mega-Hit „Born in the USA“ als „Hoffnung bringenden jungen Amerikaner“. Springsteen war allerdings zu diesem Lied angeregt worden durch die Autobiographie „Geboren am 4. Juli“ von Ron Kovic (1989 von Oliver Stone mit Tom Cruise in der Hauptrolle verfilmt), einem Vietnam-Veteranen, der von der Brust abwärts gelähmt aus dem Krieg zurückgekommen war. Die kritische Haltung des Songs gegenüber der US Politik (in Vietnam) und dazu, wie die USA ihre Veteranen behandelt, wird aber auch heute noch von Teilen der republikanischen Partei nicht verstanden und das Lied immer einmal wieder bei Wahlkampfveranstaltungen der Partei eingesetzt.
Mit den Verlierern der US-Gesellschaft setzte sich Springsteen vor allem in einer Trilogie aus eher akustischen und ohne die Band eingespielten Alben auseinander, dem 1982 auf einem Vierspurkassettenrekorder aufgenommenen „Nebraska“, dem 1995er „The Ghost of Tom Joad“, das im Titelsong an die Hauptfigur aus John Steinbecks „Früchte des Zorns“ erinnert, und „Devils & Dust“ aus 2005, das sich mit der Agonie der Bush-Ära und dem Irakkrieg befasst.
Sehr deutlich nahm Bruce Springsteen mit dem im Jahr 2000 veröffentlichten Lied „American Skin (41 Shots)“ Stellung. Er reagierte damit auf die Erschießung des unbewaffneten und unschuldigen, aus Guinea stammenden Immigranten Amadou Diallo durch vier New Yorker Polizisten im Februar 1999. Die in Zivil gekleideten Polizisten hatten Diallo mit einem gesuchten Tatverdächtigen verwechselt. Als Diallo auf Ansprache der Polizisten seine Brieftasche aus der Jacke ziehen wollte, feuerten diese insgesamt 41 Schüsse auf Diallo ab, von denen ihn 19 tödlich trafen. Die vier Polizisten wurden im Februar 2000 von allen Anklagepunkten freigesprochen. Springsteen bringt in seinem Text die Sorgen einer afroamerikanischen Mutter zum Ausdruck, wenn sie ihren Sohn zur Schule schickt: „Auf diesen Straßen, Charles, musst du die Regeln kennen / Versprich mir, wenn ein Polizist dich anhält, immer höflich zu sein / Und lauf niemals davon / und versprich deiner Mama, dass du ihn immer deine Hände sehen lässt … / du kannst dafür getötet werden, einfach nur in deiner amerikanischen Haut zu leben.“
Die größte New Yorker Polizeigewerkschaft reagierte sehr kritisch auf den Song und sprach sich für einen Boykott von Springsteen Konzerten aus. Springsteen hat „American Skin (41 Shots)“ aber aus verschiedenen Anlässen immer wieder gespielt, so 2012/13 als Reaktion auf die Erschießung des 17-jährigen afroamerikanischen Schülers Trayvon Martin und den Freispruch des Täters.
Den vielleicht größten gesellschaftlichen Einfluss mag das Album „The Rising“ von 2002 gehabt haben. Am Tag nach dem 11. September 2001 stand Springsteen mit seinem Auto an einer Ampel, als ein Mann neben ihm die Scheibe runterkurbelte und ihm zurief: „Bruce, we need you now“. Springsteen steckte zu diesem Zeitpunkt in einer Schaffenskrise und hatte schon seit 18 Jahren kein Album mehr mit der „E Street Band“ aufgenommen. Zehn Monate nach dem 11. September war Springsteen mit einem neuen Album tatsächlich zur Stelle und beschrieb die leere Verzweiflung derer, die geliebte Menschen verloren haben („Empty Sky“, „You’re Missing“, „Lonesome Day“), den Mut der Helfer („Into the Fire“), aber auch die Hoffnung auf bessere Zeiten im Titelsong und in „My City of Ruins“ mit dem gospelartig wiederholten Refrain „Come on, rise up“.
Dass es für Musik oder Kunst im Allgemeinen aber in der Regel fast unmöglich ist, einen weitergehenden Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu haben, zeigte sich einmal mehr im Juni dieses Jahres am tragischen Beispiel eines Vaters und seiner Tochter aus El Salvador, die beim Versuch den Rio Grande zwischen dem mexikanischen Matamoros und dem US-Ort Brownsville zu durchqueren, ertranken. Auf dem Foto der Ertrunkenen sieht man, dass der Vater seine kaum zweijährige Tochter unter sein T-Shirt geschoben hatte, damit die Strömung des Grenzflusses sie nicht von ihm wegrisse und das Mädchen im Tod den Arm immer noch um den Hals des Vaters gelegt hatte. 14 Jahre zuvor hatte Bruce Springsteen im Lied „Matamoros Banks“ vom schon zitierten Album „Devils & Dust“ den Tod eines Geflüchteten geschildert, dem der Rio Grande an genau derselben Stelle zwischen Matamoros und Brownsville zum Verhängnis wurde. Im Begleitheft zur CD schrieb Springsteen: „Jedes Jahr sterben viele Menschen, die die Wüsten, Berge und Flüsse unserer südlichen Grenze auf der Suche nach einem besseren Leben durchqueren.“ Wer im Elan seiner Jugend dachte, dass Musik die Welt ändern kann, wird einmal mehr eines Besseren belehrt. Selbst das Foto der beiden Toten bewegt die Menschen nur kurz, ändert aber nichts an der Politik und der Situation der Geflüchteten an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Und dennoch: wo sind die Künstler Europas, die sich explizit zum Sterben im Mittelmeer äußern?
Einen intensiven Einblick in sein eigenes (Seelen-)Leben hat Bruce Springsteen in seiner anfangs schon erwähnten Autobiographie gegeben. Schonungslos schreibt er über seine psychischen Probleme und die Depression, die ihn seit seiner Jugend bis zum heutigen Tag – oft nach der Euphorie einer Konzerttour und insbesondere im Alter zwischen 60 bis 64 – immer wieder ereilt hat, und die er nur durch jahrelange Psychotherapie, die offensichtlich dauerhafte Einnahme von Psychopharmaka und die Unterstützung seiner Frau im Griff hält.
Springsteen beleuchtet in seinem Buch insbesondere die schwierige Beziehung zu seinem manisch depressiven Vater, der ihm nie eine Form von Zuneigung entgegenbringen konnte, auf tiefgründige Weise: „Wir erweisen unseren Eltern die Ehre, indem wir das Beste von ihnen übernehmen und den Rest hinter uns lassen. Indem wir die Dämonen bekämpfen und niederringen, die sie krank gemacht haben und die jetzt in uns weiterleben. Das ist alles, was wir tun können – wenn wir Glück haben. Und ich habe Glück. […] Ich habe eine Frau, die ich liebe, eine […] Tochter und zwei […] Söhne. […]Wir leiden nicht unter der Entfremdung und dem Chaos, die ich in meinem Elternhaus erlebt habe. Und trotzdem sind die Probleme meines Vaters fester Bestandteil unseres Stammbaums […] also müssen wir wachsam bleiben.“
Auch Arbeit hilft Springsteen gegen seine psychischen Belastungen. So wundert es nicht, dass er nach Erscheinen seiner Autobiographie über ein Jahr lang bis Dezember 2018 an fünf Abenden in der Woche alleine auf der Bühne eines Broadway Theaters stand und eine gelungene Mischung aus Geschichten aus seinem Leben und dazu passenden Songs präsentierte (als „Springsteen on Broadway“ bei „Netflix“ zu erleben). Und dass er sich in diesem Jahr mit seinem 19. Studioalbum „Western Star“ neu erfunden hat mit einer Musik, die man so noch nicht von ihm gehört hat, auf der die Bläser und Streicher mehr im Vordergrund stehen als die Gitarren und die manchmal wie aus einem alten Western klingt.
In einem Interview hat Springsteen einmal gesagt, dass seine unfertigen Lieder wie Bilder in einem Maleratelier lagern und er ab und zu danach schaut, an welchen er weiterarbeiten mag. Und tatsächlich befasst er sich derzeit schon wieder mit Material, das er zusammen mit der „E Street Band“ aufnehmen will. Die Aussichten, dass Springsteen mit dann 70 Jahren und seiner Band 2020/21 wieder auf eine ausgedehnte Tour geht, erscheinen also gut.
„Bruce, we need you now“ könnte für Springsteen angesichts der Zerrissenheit der US-Gesellschaft heute mehr denn je gelten. Die Verlierer, die Springsteen in seinen Liedern und einmal mehr in „Westerns Stars“ beschrieben hat, das sind die Menschen, die Donald Trump zu seinen Wählern zählen kann. Vielleicht überwindet Springsteen ja die Sprach- und Hilflosigkeit, die viele US-Künstler derzeit zu kennzeichnen scheint, und kann mit einer neuen Platte und öffentlichen Auftritten im Wahljahr 2020 ja doch einen politischen Einfluss nehmen. In diesem Sinne: alles Gute zum 70. Geburtstag, Bruce Springsteen.
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