22. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2019

„This is the end; this is the beginning“

von Jürgen Leibiger

Mit diesen Worten überschreibt der US-Amerikaner Immanuel Wallerstein (1930–2019), einer der weltweit einflussreichsten Wirtschaftshistoriker und Soziologen, den fünfhundertsten Eintrag auf seiner Kommentarseite. Er hatte 1998 damit begonnen, neben seinen vielen Veröffentlichungen und Vorträgen in aller Welt, zweimal im Monat zu wichtigen wirtschaftlichen und politischen Ereignissen kurze Stellungnahmen zu veröffentlichen. Irgendwann einmal beschloss er, wie er schreibt, mit dem 500. Eintrag aufzuhören. Am 1. Juli dieses Jahre war es soweit und er schrieb seinen letzten Kommentar: „This is the end; this is the beginning.“
Wallersteins Hauptwerk beschäftigt sich mit der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus. Neben vielen anderen Werken hat er dazu zwischen 1974 und 2011 die auch ins Deutsche übersetzten vier Bände „The Modern World-System“ veröffentlicht. Die moderne, kapitalistische Welt wird darin als ein globales, arbeitsteiliges System beschrieben, das vorrangig auf zunehmender Kommodifizierung und einem mittels wirtschaftlicher, militärischer, politischer und kultureller Macht erzwungenen ungleichen Tausch zwischen den Zentren, einer Semiperipherie und der Peripherie beruht. Das Zentrum sei immer von einem Hegemon geprägt worden, zuerst durch die Niederlande, später durch Großbritannien und zuletzt durch die USA.
Obwohl Wallerstein neben Fernand Braudel (1902–1985), Joseph A. Schumpeter (1883–1950) oder Karl Polanyi (1886–1954) auch Karl Marx (1818–1883) als jene Denker nennt, die ihn beeinflusst haben, wurde sein Ansatz vom ungleichen Tausch von marxistischer Seite auch kritisiert. Denn in der Tat wird damit das „Surplus“ nicht als ein in der Produktion geschaffener Mehrwert, sondern primär als das Resultat einer weltweiten Umverteilung, eines globalen Nullsummenspiels, interpretiert.
Neben den Metamorphosen in den Wechselbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie und neben Aufstieg und Abstieg des jeweiligen Hegemons sieht Wallerstein die Geschichte durch lange Wellen bestimmt. Wie alle Systeme unterliege auch das Weltsystem einem zyklischen Rhythmus. Hier knüpft er an den sowjetischen, unter Stalin ermordeten Ökonomen Nikolai Kondratieff (1892–1938), an Schumpeter und an die Systemtheorie des Nobelpreisträgers Ilya Prigonine (1917–2003) an. Lange Wellen der Konjunktur, die jeweils mehrere Jahrzehnte umfassen, ergäben sich dadurch, dass bestimmte, „führende“ Produkte durch die Zentren monopolisiert würden. Darauf beruhten deren großen Profite und entsprechende Kapitalmassen. Der Abschwung der Welle setze ein, wenn zunehmende Konkurrenz Preise und Profite wieder sinken lasse und zu einer Stagnation der Weltwirtschaft führe. Eine solche Phase sei nun seit längerem eingeleitet.
Freilich glaubt Wallerstein nicht an die Ewigkeit der Wellenbewegung. Alle Systeme hätten einen Anfang und ein Ende. Ihr Bewegungsrhythmus schließe irreversible Momente ein und schließlich fänden sie nach mehreren Schwankungen nicht mehr zu einem Gleichgewicht zurück, sondern endeten in einem chaotischen Zustand oder verwandelten sich in etwas Neues. Eine solche Phase habe der Kapitalismus jetzt erreicht.
Die Anzeichen dafür sieht er vor allem in der Tendenz zu einer säkularen Stagnation und in der Krise des Hegemons. Seine Kommentarreihe eröffnete Wallerstein 1998 mit einem Artikel über die USA: „How Strong is the Superpower?“ Die Frustration der amerikanischen Öffentlichkeit und die US-Politik habe viel mit dem Niedergang der Macht der USA zu tun, schrieb er damals. „Die USA ist noch kein Papiertiger (wie es Mao Zedong einmal ausgedrückt hatte) und noch ist sie die einzige Supermacht der Welt, aber wie viel Kontrolle wird sie in den nächsten 10 bis 25 Jahren noch darüber haben, wohin sich die Welt entwickelt? Ich würde sagen, nicht sehr viel.“ Wallerstein mag sich bei der Dauer dieses Prozesses verschätzt haben, hinsichtlich seiner Richtung aber wohl kaum.
Und der Kapitalismus insgesamt? In einem Interview, das die französische Le Monde mit ihm 2008 führte, gab er ihm noch 30 bis 40 Jahre. Er wolle sich nicht festlegen, ob dem Chaos ein noch ausbeuterischeres System oder ein eher egalitäres System folgen würde, er halte beides für möglich. In etwa zehn Jahren, also heute, sähe man klarer. Das Interview endete ziemlich pessimistisch: Die USA würden zum weltweit instabilsten Land mit inneren Konflikten mutieren. „Und vergessen Sie nicht, dass wir Amerikaner alle bewaffnet sind …“.
Die zehn Jahre sind jetzt um. Sehen wir klarer? Seinen letzten Kommentar beendet Wallerstein so: „Ich habe in der Vergangenheit immer meine Überzeugung klar gemacht, dass der entscheidende Kampf immer ein Klassenkampf war, Klasse, verstanden in einem sehr weiten Sinne. Was diejenigen, die auch in der Zukunft noch leben werden, tun können, ist, gemeinsam dafür zu kämpfen, dass der Wandel zur Realität wird. Das glaube ich nach wie vor und ich denke, es gibt eine 50–50-Chance, das wir einen transformatorischen Wandel schaffen, aber nur 50–50.“
Immanuel Wallerstein verstarb am 31. August 2019.