22. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2019

Pfarrer Körner in den Zeiten

von Jens Langer

Seit dem Sommer 2019 wird mit neuer Intensität um die Deutungshoheit über unsere jüngste Geschichte gestritten. Detlef Pollack und Ilko-Sascha Kowalczuk haben damit im Feuilleton der FAZ begonnen: Haben die Bürgerrechtler von 1989 die Veränderungen herbeigeführt oder „das Volk“? Wie wurde aus dem Aufbruch mitten im Zusammenbruch der DDR ein Anschluss an die BRD? Erhard Weinholz ist im Blättchen darauf eingegangen. Christoph Körner, ein Akteur aus Sachsen mit weitem Horizont, legt nun seine persönliche Bilanz vor, die zugleich eine Warnung vor glatten Antworten darstellt. Er betreibt persönliche und institutionelle Spurensicherung angesichts wachsender Vergesslichkeit, individueller oder gesellschaftspolitischer Verdrängung.
Anfangs überrascht es, dass Körner die beiden letzten Jahre des Nazistaates ausdrücklich in seine Systemanalyse aufnimmt und so auf drei politische Systeme in seiner Lebenszeit kommt. Bei fortschreitender Lektüre wird aber deutlich, wie integriert diese Jahre in der Biografie des Autors sind: „Einen Tag vor meiner Geburt ergibt sich die 6. deutsche Armee in Stalingrad.“ Der Lebensweg seines kriegsversehrten Vaters und seiner zeitweise alleinerziehenden Mutter hat die Entwicklung des Nachgeborenen nachhaltig geprägt. Er wird zum Wehrdienstverweigerer, der sich der Ehrfurcht vor dem Leben (Albert Schweitzer) verpflichtet weiß. Ein wertvolles Fundstück ist in dieser Hinsicht auch Körners Korrespondenz mit dem Leipziger Theologen Emil Fuchs, der sich für den jungen Mann einsetzt. Eine solche Information erweitert den Blick auf den greisen Quäker, der in der Regel durch das Klischee von der Systemtreue verengt wird.
Bei alledem bewährt sich Körners Privatarchiv: Schülerprotest, soziale Ausgrenzung, Facharbeiterausbildung, Erfahrungen als Jugendlicher bei der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, Widerspruch gegen den Abriss der Leipziger Universitätskirche, Wehrdienstverweigerung, sicherheitsdienstliche Ausforschung, 1989 nicht mehr ausgeführter Haftbefehl, friedenspolitisches Engagement unter Kritik von Staat und sächsischer Landeskirche – alles ist belegt und wird Teil eines profunden Gedächtnisses. Dokumentiert werden aber auch erfreuliche Begegnungen mit Kollegen und Staatsfunktionären, die den Horizont aller Beteiligten erweiterten. Wer erinnert sich beispielsweise noch an die Wochenpost vom 26. Dezember 1986 mit der Reportage über die junge Pfarrfamilie Körner?
Weite und Liebe zum Detail zeigen sich auch in der Darstellung seines Studiums am Theologischen Seminar der Leipziger Mission. Dort wurde auf dem zweiten Bildungsweg die Möglichkeit geboten, das Examen für den Pfarrberuf abzulegen. An dieser Ausbildungsstätte trafen sich also Berufstätige und Abiturienten, die zum akademischen Studium nicht zugelassen worden waren. Körner nennt die Besonderheiten der Ausbildung und zählt die Namen der Dozenten für die einzelnen Fachgebiete auf. Das ist Spurensicherung auf einem besonderen Feld; denn das Seminar wurde bald nach 1989 von der Universitätsfakultät übernommen.
Die Solidarität mit weit entfernten Völkern führt Körner in einem Fall wieder zurück in die eigene Region: In Mittweida hatte es ein KZ gegeben, dessen Existenz von offizieller Seite aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde. Körner gelingt es in Zusammenarbeit mit zwei überlebenden Zwangsarbeiterinnen aus der Ukraine, dass dieser Tatbestand anerkannt wird: Nichts passiert im Selbstlauf, nichts wird geschenkt. Das erfährt auch Karin Körner, Ärztin an des Autors Seite: „Meine Frau kämpfte zehn Jahre für ein Mahnmal in unserer Stadt, bis es endlich am 25. April 2005 […] errichtet und eingeweiht werden konnte.“
Auch Rückschläge werden in dieser lebensgeschichtlichen Bilanz nicht verschwiegen – wie etwa die problematischen Kriterien für die Auswahl der Kinder aus Tschernobyl, die zur Erholung nach Mittweida reisen dürfen.
In vergangenen und neuen Strukturen setzen sich Körner und Verbündete stets aufs Neue für ein gerechtes Zusammenleben in Frieden ein. Hierzu hat er bereits 2017 ebenfalls im Verlag Religion und Kultur eine umfangreiche Publikation vorgelegt: „Christliche Sozialökonomie“ (Das Blättchen 1/2017). So fügen sich Theorie und Lebenspraxis zu einem inspirierenden Konzept zusammen. Übrigens: Alle Aktivitäten über Jahrzehnte inmitten seines Dienstes in der klassischen Kirchengemeinde und bald auch zusätzlich in der Evangelischen Studentengemeinde Mittweida!
Ich komme noch einmal zurück zu der Diskussion um die Deutungshoheit über 1989 und die Folgen: Personen wie Körner standen und stehen mitten in der Zeit. Sie sagen, was gesagt werden muss. Sie halten die Konsequenzen ihres Handelns aus, wozu auch Anfeindungen und Niederlagen gehören, nicht immer von Gegnern verursacht. In allen diesen Prozessen entwickelt sich die Gesellschaft weiter, und wenn die Zeit reif ist und die Diskussion um den Weg in die Zukunft beginnen soll, rufen sie ihren Kontrahenten ihr Grimmsches „Ick bünn all hier!“ zu. Mit dem Volk und seinen Protagonisten treiben sie die gesellschaftlichen Veränderungen voran. Wer war zuerst, und wer war nicht dabei? Sie stehen jedenfalls mittendrin, und das seit Langem. So wie unser Autor. Respekt für dieses Engagement und Dank für die Möglichkeit, durch diesen Erfahrungsspeicher daran teilnehmen zu können!

Christoph Körner: Im Niedergang wird die Zukunft geboren. Staat-Kirche-Erfahrungen in drei politischen Systemen (1943–2019). Verlag Religion & Kultur, Zell a.M. 2019, 212 Seiten, 20,00 Euro.