22. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2019

Erlesenes: Gleim, Lene Voigt
und zwei Zweihundertjährige

von Wolfgang Brauer

Dieser Sommer ist nichts für anstrengende Lektüre, die einem die Welt versucht bis in die letzten Fitzelchen zu erklären. Also greife ich zu einer bereits 2017 bei Aufbau erschienenen Biografie einer Dichterin, die Generationen von sich hauptsächlich im sächsischen Sprachraum bewegenden Lesern unvergessliche Lektüre-, nein, Hörgenüsse bereitet hat. Die Gedichte der Autorin muss man hören! So ganz nebenbei erschloss sie bildungswiderständigen Seelen im Freistaat zwischen Pleiße und Weißeritz die Dichtungen der „Glassiger“: Hamlädd, De Jungfrau von Orleang, Gabale un Liewe, s’ Gätchen von Heilbronn. Und nirgends kommt „De Hermansschlacht oder’s Gampfgewärche im Deudoburcher Walde“ so nachvollziehbar daher wie bei Lene Voigt: „Ä Weib, von Rachedurscht geschwellt, / Das isses Schlimmste uff dr Welt […]“. Tom Pauls, der sich nimmermüde – Karten für sein Pirnaer Theater zu bekommen ist entsetzlich schwer – um Lene Voigt bemüht, ist gemeinsam mit Peter Ufer Verfasser von „Meine Lene“. Der Untertitel des Buches lügt nicht. Es ist eine Liebeserklärung, eine bewundernswert gelungene dazu. Lene Voigt hatte es ihr Leben lang nicht leicht. Von privaten Schicksalsschlägen gebeutelt wurden ihre Gedichte von den Nazis verboten. Sachsens Gauleiter Martin Mutschmann fand Sächsisch „unheldisch“. In der DDR – Lene Voigt starb 1962 in Leipzig – wurde sie bis in die 1970er Jahre hinein totgeschwiegen. Sie selbst suchte Zuflucht in der Psychiatrie. Ihr Leipziger Sächsisch wurde als Ulbricht-Parodie missverstanden. Lene Voigts Dichtungen sind einfach göttlich! Es ist nicht immer ganz klar, wo bei ihr die Scheidelinie zwischen Parodie und Flucht in die Mundart liegt, weil ihr die Wirklichkeit anders kaum zu bewältigen erschien: „Schaugle, mei Gahn uff der Bleiße, / Schaugle un gibbe nich um! / Scheen is, wenn glorgsen so leise / De Welln. Un de Miggen, die summ’.“
Tom Pauls mit Peter Ufer: Meine Lene. Eine Liebeserklärung an die Dichterin Lene Voigt, Aufbau Verlag, Berlin 2017, 336 Seiten, 20,00 Euro.

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Das zitierte Lene-Voigt-Gedicht mit den „Miggen“ heißt „Bargarohle“ – das ins Hochdeutsche übersetzt geraten alle romantisch angehauchten Seelen ins Schwärmen: „Schöne Nacht, duhu Liiehiebesnacht …“ Wir sind im vierten Akt von Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ und gleiten, geführt von der Kurtisane Giulietta und Hoffmanns Gefährten Nicklausse über die sanften Wellen des Canal Grande dahin. Die mythenumwobene Oper ist Offenbachs letztes großes Werk. Die Uraufführung am 10. Februar 1881 in der Pariser Opéra Comique erlebt der Komponist nicht mehr. Die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Werkes hat Ralf-Olivier Schwarz in einer exzellent geschriebenen und sachkundigen Biografie Offenbachs dargestellt. Dieser für viele französischste aller französischen Komponisten – sein Zeitgenosse und Kollege Georges Bizet wird gern für einen Spanier gehalten – wird am 20. Juni 1819 als Jakob Offenbach in Köln geboren. Damit gehört er in die Reihe der berühmten Zweihundertjährigen des Jahres 2019. Der junge Jakob landet nicht zufällig im November 1833 in Paris, jener Hauptstadt „der ganzen zivilisierten Welt“, wie Heinrich Heine die Stadt klassifiziert. Hier kann er frei atmen, hier hat seine Kunst den Nährboden, den sie braucht, um zu wachsen und einen Esprit sondergleichen zu entfalten. Aus Jakob wird Jacques und aus dem um das Violoncello bemühten Musikschüler spätestens 1858 mit „Orpheus in der Unterwelt“ („Orphée aux enfers“) einer der größten Komponisten und Theaterunternehmer des 19. Jahrhunderts, der am Anfang der klassischen Operette steht. Schwarz lässt seine Leserinnen und Leser diesen Weg en détail verfolgen und bietet eine Fülle anregender interpretatorischer Hinweise, denen man folgen kann, aber nicht immer muss. Offenbachs Werk hat sich schon zu seinen Lebzeiten gelegentlich „verselbstständigt“ – nicht jede Fassung kann Originalitätsanspruch erheben. Ebenso verhält es sich mit der politischen Ebene seines Schaffens. Natürlich und zu recht gilt er als kongenialer Kritiker des Zweiten Kaiserreiches Napoleons III. – dennoch bezeichnet Schwarz ihn als „zeitlebens recht apolitisch“ mit „wenig Sympathie für die revolutionären Unruhen“. Das ist nicht ganz unberechtigt. Der Komponist braucht das blühende „Pariser Leben“. Wie sonst sollen seine Werke auf die Bühne kommen? Ralf-Olivier Schwarz ist eine packende, gut lesbare Musikerbiographie gelungen. Der Verlag legte sie zur rechten Zeit vor. Offenbach wird im Herbst 2019 von den Spielplänen nicht nur in Frankreich nicht wegzudenken sein. Barrie Kosky machte am 14. August mit „Orphée aux enfers“ in Salzburg den Auftakt dazu.
Ralf-Olivier Schwarz: Jacques Offenbach. Ein europäisches Porträt, Böhlau Verlag, Wien / Köln / Weimar 2019, 320 Seiten, 29,00 Euro.

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Vor einiger Zeit hatte ich im Blättchen auf Johann Wilhelm Ludwig Gleim aufmerksam gemacht. In der Schriftenreihe des Halberstädter Gleim-Hauses waren bereits 2003, herausgegeben von Walter Hettche, dessen „Ausgewählte Werke“ erschienen. Jetzt liegt die zweite, durchgesehene Auflage bei Wallstein vor. Vom Titel, der für gewöhnlich Langeweile androht, soll man sich nicht abschrecken lassen und getrost dem von Hettche vorgeschlagenen Pfad durch das umfangreiche Werk dieses bis zum heutigen Tag unterschätzten Dichters, Netzwerkers der deutschen Aufklärung und uneigennützigen Förderers hungernder Literaten folgen. Natürlich sind die hübschen Dichtungen der anakreontischen Periode enthalten: „Und die, die mich alsdann besieget, / Die mich beständig macht, und treu, / Die mich in Hymens Joch betrieget, / Die kröne mich mit Hirschgeweyh.“ Der Herausgeber spart die unsäglichen „Preussischen Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1758 von einem Grenadier“ ebenso wenig aus wie andere patriotische Gesänge, die einem heute nur noch Grausen bereiten. Ein Freund der französischen Revolution war Gleim weiß Gott nicht. Aber, auch das gehört zum Bild des Dichters, vom bluttriefenden Nationalismus, den Theodor Körner und Ernst Moritz Arndt in den sogenannten Befreiungskriegen in Verse meißelten, ist Gleim meilenweit entfernt: „Ich hör’: in aller Welt ist Krieg, / Die Völker schlachten sich; / Gott gibt den Ungerechten Sieg, / Ihr ‚Ach und Weh!‘ hör ich“, klagt der „alte Grenadier“ 1799. Und ein Jahr später: „Zum Frieden führt kein Sieg; Kein Held ist Licht und Recht; Ausrotten soll der Krieg / Das menschliche Geschlecht!“ Es ist schön, dass „Vater Gleim“ wieder ein Stückchen aus dem Halbdunkel der fast vergessenen Autoren heraustritt.
Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke. Herausgegeben von Walter Hettche, 2. durchgesehene Auflage. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 768 Seiten, 29,00 Euro.

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Zuguterletzt gehen wir auf Reisen. Natürlich dahin, wo Fontane auch war, möglicherweise jedenfalls. Cornelius Pollmer – er schreibt sonst für die Süddeutsche Zeitung über Ostdeutschland – ließ sich einen Sommer lang, wie er erklärt, durch Brandenburg treiben und lernte dabei allerhand Dinge kennen, die er vorher nie für möglich gehalten hätte: einen Freiherrn von dem Knesebeck, der Ferienwohnungen ausbaut, einen Imbissbudenmogul in der Prignitz, der ihm zu seinem ersten Fallschirmsprung („Tandem“ nehme ich an) verhilft, das Fontane-Archiv, einen völlig verblödeten Hund in einem Vorgarten, einen vegetarischen Hochzeitsplaner in Marquardt, einen hilflosen alten Segler am Templiner See, einen skurrilen Brauch in Werben im Spreewald und und und. Warum man das lesen soll? Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil nicht jeder die Erfahrung von drei Tage Koma-Saufen machen kann. Vielleicht, weil das Büchlein von Vorurteilen nur so wimmelt: „Es ist […] nicht gerade eine Kernkompetenz der Menschen hier, aktiv und offensiv etwas anzubieten […]. Es gibt eine hinderliche Bescheidenheit im Osten, die über ein gesundes Charaktermaß hinausgeht.“ Das ist nett formuliert und tut beim ersten Lesen gar nicht weh. Nur intensiver darüber nachdenken sollte man nicht … Aber das gehört ja auch nicht zu den Kernkompetenzen von unsereinem. Ansonsten ist man nach der Lektüre froh, irgendwie zum Fontane-Land zu gehören. Hier geben einem nämlich die Leute per Blick „verlässlich“ nur zu verstehen, dass man unerwünscht sei. In Sachsen jedoch „sind diese Blicke oft von kaum verhohlener Mordlust“, sagt jedenfalls Cornelius Pollmer. Der muss es wissen. Er stammt aus Dresden.
Cornelius Pollmer: Heut ist irgendwie ein komischer Tag. Meine Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Penguin Verlag, München 2019, 240 Seiten, 20,00 Euro.