von Bernhard Mankwald
Auch in diesem Jahr wurde ich in meiner Wohnung in Bochum wieder von einem Ereignis heimgesucht, das man bei allen stilistischen Unterschieden der vertretenen Musikgruppen auf einen einfache Formel bringen kann: vier Tage lang Rock frei Haus. Nach anfänglicher Irritation nahm ich dies zum Anlass, mal wieder ganz entspannt ein wenig Musik zu hören und dabei zuzusehen, wie sie gemacht wird – denn wie schrieb schon Karl Marx: „Der Rock ist ein Gebrauchswert, der ein besonderes Bedürfnis befriedigt. Um ihn hervorzubringen, bedarf es einer bestimmten Art produktiver Tätigkeit.“ – Dieses Zitat begegnete mir zuerst in einem Buch von Helmut Salzinger aus dem Jahr 1972, das mich seit meiner Schulzeit immer wieder beschäftigt. Der Untertitel lautet: „Wie musikalisch ist die Revolution?“
Über hundert Gruppen auf fünf Bühnen und an etlichen weiteren Schauplätzen – auch wer Ohren hat zu hören, ist doch in der Regel so knapp mit diesen Sinnesorganen ausgestattet, dass er dieselben bei solcher Fülle höchstens einzelnen ausgewählten Darbietungen leihen kann. Dabei ließ ich mich natürlich in erster Linie von der subjektiven Anmutung der „Resultate“ leiten, interessierte mich aber auch für die angewandten „Mittel“ und die „Operationsweise“ – um es in Begriffen auszudrücken, die Marx als Determinanten der besagten Tätigkeit nennt.
Die heutigen Mittel erlauben es unter anderem, in großem Umfang auf vorgefertigte Teile zurückzugreifen. So bestand etwa der sichtbare Teil einer Gruppe, die im Programmheft als „Synthpop“ klassifiziert wurde, außer Gitarrist und Sänger lediglich aus einem Schlagzeuger, der offenbar nebenher auch all die wabernden und wummernden Klänge verwaltete. Der Sound einer Gitarrengruppe wurde bei manchen Stücken von Klängen einer unsichtbaren elektronischen Orgel dominiert, deren Urheber zu dem Zeitpunkt vermutlich gerade auf einem anderen Kontinent weilte.
Zum Glück geht es auch anders. Eine Gruppe namens „Haión“ etwa zeigte, dass man auch elektronisch erzeugte oder aufgezeichnete Klänge manuell auslösen kann. Neben Tastaturen bieten sich hierzu Schlagflächen an, die sich mit Trommelstöcken bearbeiten lassen; was die durchwegs schwarz gekleideten jungen Leute mit sichtlicher Spielfreude taten. Aus mehrstimmigem Gesang ragten zwei auf jeweils andere Art beeindruckende Frauenstimmen hervor und ließen vor allem dann aufhorchen, wenn sie sich an orientalischen Tonleitern entlanghangelten. Insgesamt eine gelungene Sympathiewerbung für eine Musik, die ich bei flüchtigerer Betrachtung vielleicht als „so’n Techno-Zeug“ abgetan hätte.
„Alice Francis weiß, was sie will und wie sie es umsetzt“, hieß es im Programmheft. Das bewies die Sängerin schon durch einen sehr konzentrierten Soundcheck; nach kurzem Hinhören war fast alles „o.k.“, nur ein einziges Instrument etwas zu laut. Nach der Ankündigung kombiniert ihr Stil den „Swing der Roaring Twenties mit Einflüssen aus Elektronik und HipHop“. In Kleidung, Haartracht und Tanzstil sah ich Anklänge an die erstgenannte Zeit; die Musik klingt aber deutlich härter als in der Ära der Big-Bands. Sie singt Englisch, spricht mit Publikum und Band akzentfreies Deutsch, füllt die Bühne mit ihrer Präsenz, ohne dass die klare, helle und einschmeichelnde Stimme je außer Atem geriete. Der Schlagzeuger liefert ein solides Fundament; der Bassist steuert neben elektrischen auch akustische und elektronische Klänge bei. Der Mann an den Tasten ist für orchestrale Sounds und jazzige Schnörkel zuständig und steuert zu einem Stück mit verblüffend hoher Stimme sehr schönen Gesang bei. Ein „Mr. Goldilocks“ schließlich kümmert sich um den computergestützten Teil des Sounds sowie um Gitarrenpartien und erweist sich auch als kongenialer Duettpartner – was bei einem Stück zum Duell ausartet: Da räsoniert die Sängerin zu entsprechender klanglicher Untermalung darüber, ob es nicht eine gute Idee wäre, gewisse Männer zu erschießen. Auch dies aber mit so viel Ironie und Charme, dass ich mich an meinem Platz mit guter Sicht auf die Bühne in keiner Weise gefährdet fühlte.
In unmittelbarer Nachbarschaft kamen inzwischen auch Freunde der klassischen Musik auf ihre Kosten: Im neuen Musikforum, dessen Akustik sehr gelobt wird, führten unter anderem fünf verschiedene Orchester aus der Region an zwei Tagen Tschaikowskis gesammelte Symphonien auf.
Eine „Mischung aus Punk, Indie und Klassik“ schließlich erwies sich für mich als der bewegendste Auftritt. Die Gruppe „Iksy“ stammt aus Kraków und trat im Rahmen eines Bandaustauschs studentischer Initiativen auf. Die Sängerin überzeugte durch eine erdige Soul-Stimme – wobei ich eher an die Seele des alten Europa denke als an die des „Ol’ Man River“ – und betätigte sich auch als Sprecherin. Soweit ich beurteilen konnte, geschah dies in polnischer Sprache; jedenfalls verstand ich kein Wort. Gestik, Mimik und Intonation waren aber derart engagiert und ausdrucksvoll, dass die Worte mir ungemein interessant erschienen. Ihre Mitstreiter begleiteten sie mit Hingabe und Können an Bass, Schlagzeug, Gitarre und Geige; ziemlich raue Töne wechselten mit lyrischen Passagen ab, in denen die Sängerin gelegentlich mit ihrer Ukulele schimmernde Akzente setzte. Durch solche Wechsel der Stimmung und des Tempos wirkte die Musik ungemein lebendig und bewegend – kurz: Es war reine Poesie. Und dazu gehört ja wohl auch, dass man nicht auf Anhieb alles versteht. Die Band ihrerseits freute sich sichtlich über das aufmerksame Publikum.
Die beste Musik wird also bei allem technischen Fortschritt offenbar immer noch mit der Hand gemacht; und bei diesem Festival wird sie, jedenfalls für den „Endverbraucher“, auch nicht zur Ware. Das Ganze finanziert sich durch Zuschüsse vom Rundfunk, der Stadtsparkasse und von Szene-Magazinen und durch Standgebühren der reichlich vorhandenen Anbieter von Speisen, Getränken und anderen Annehmlichkeiten. Meinem derzeitigen Finanzstatus kam das sehr entgegen.
Der eingangs gebrauchte Begriff der „Heimsuchung“ gewann so eine neue Bedeutung; bei manchen christlichen Konfessionen ist „Mariä Heimsuchung“ ja sogar ein Feiertag. Erinnert wird an einen Besuch der legendären Mutter des Religionsstifters bei ihrer noch viel legendäreren Cousine; und die soll sich darüber sehr gefreut haben. – So war auch für mich dieser „Besuch“ keine Plage, sondern eine erfreuliche Begegnung mit einer vielfältigen und lebendigen Kultur.
Schlagwörter: Bernhard Mankwald, Bochum, Klassik, Musikfestival, Rock