von Henryk Goldberg
Manche Frauen tragen ein Kopftuch. Manche Männer tragen eine Kippa. Sie tun das, um den Gott zu bekennen, an den sie glauben.
In München wurde ein Rabbiner, der seine Kippa trug, in Begleitung seiner Söhne nach dem Verlassen der Synagoge beschimpft. „Scheiß Jude!“
In Berlin wurden, etwas früher in diesem Sommer, zwei junge Frauen, die Kopftücher trugen, von zwei älteren Ehepaaren beschimpft. Einer der Männer, heißt es, soll dabei gerufen haben „Zieht die Scheiße aus! Das ist unser Land!“
In der Tat, das ist unser Land. So ist unser Land, nicht nur, aber auch. Es gibt die, die etwas an sich Positives wollen auf, da wir gerade von Religion sprechen, Teufel komm raus, und es gibt die, die etwas wollen, was sie für richtig halten – was nicht in jedem Falle grundfalsch sein muss –, und denen ihr Verhalten dabei, um sich hier einmal ihrer Sprache zu bedienen, scheißegal ist. Und dann gibt es noch Richter, die zum Beispiel im Juni den Haftbefehl für einen islamistischen Gefährder und Kriminellen wieder außer Vollzug setzen, nachdem die Polizei eine scharfe halbautomatische Waffe bei ihm entdeckt hatte.
Und dann gibt es noch Menschen, Thüringer, die zum Beispiel die angekündigten Gehaltserhöhungen, die auch den Erfurter Oberbürgermeister beträfen, auf Facebook in einer Weise diskutieren, dass man sich gelegentlich fragt, wie Menschen mit diesem kulturlosem Niveau fähig waren, die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens zu erlernen. Und dabei haben wir noch nicht über all die gesprochen, die Rettungssanitäter und Feuerwehrleute anpöbeln und bespucken, während diese schwer verletzten Menschen helfen und dabei die Unverschämtheit besitzen, anderen Mitbürgern, die es eilig haben, im Wege zu stehen. Schließlich, wir sind ein freies Land und da wird man ja wohl noch bisschen filmen dürfen, wenn so ein Motorradfahrer als Matsch im Graben liegt. Wo kämen wir denn da hin!
Und genau das ist die Frage: Wo sind wir hingekommen?
Es geht um die Atmosphäre im öffentlichen Raum, um die Hemmungslosigkeit, mit der sich Dummheit und Ignoranz öffentlich bekunden. Es geht um den Verlust eines Gefühls von Scham, um das weithin verlorene Gefühl, etwas könnte peinlich sein.
Kürzlich trafen die beiden oben erwähnten Gruppen ungebremst aufeinander. In Leipzig hatten zwei Kitas beschlossen, mit Rücksicht auf zwei Kinder aus muslimischen Familien kein Schweinefleisch mehr anzubieten und keine Produkte, in denen Gelatine enthalten ist, also etwa Gummibärchen. Ich halte das für falsch, so wie ich es für falsch halte, einen Weihnachtsmarkt aus den gleichen Gründen Wintermarkt zu nennen oder Martini als Lichterfest zu neutralisieren. Das Land heißt Deutschland, es hat seine Traditionen, es hat seine, doch, Leitkultur, wie immer man sie nennen will – und es hat diese Leitkultur auch dann, wenn Menschen dieses Wort, dass nur eine Tradition beschreibt, als Kampfbegriff missbrauchen.
Es geht darum, dass niemand gezwungen ist, auf dem Weihnachtsmarkt der Geburt Jesu zu gedenken, was im Übrigen wohl auch Christen beim Glühwein eher selten gelingt; es geht darum, dass niemand, der sein Laternchen in die Hand nimmt, angehalten ist, des heiligen Martin oder des anderen Martin zu gedenken. Obgleich, am Rande, manche Muslime, kennten sie nur Luthers „Judenschriften“, ihn wohl mit einiger Sympathie begegnen würden. Es geht darum, dass manche gern Schweinefleisch essen und andere das, aus Gründen ihrer Religion, ablehnen. Es geht darum, dass in einer Kita auf dem Teller der deutschen Anna Schweinefleisch liegt und auf dem Teller der arabischen Aisha, die daneben sitzt, nicht. Es geht nicht darum, dass Anna kein Schwein mehr essen darf oder Aisha es muss. Es geht darum, dass das normal ist.
Ich verstehe also jeden, der gegen diese Entscheidung in Leipzig ist. Aber ich verstehe keinen, der aus dieser Haltung heraus schreibt „An den Galgen mit dir oder standrechtlich erschießen!“, keinen, der pöbelt und droht. Diese Mitbürger, von denen ich wollte, sie wären es nicht, haben von der Leitkultur, die sie einfordern, nichts, aber auch gar nichts begriffen, sie sind nur primitiv und dumm. Und, wenn man sie lässt, gefährlich. Jetzt finde ich sie nur, pardon, zum Kotzen. Einige Jahrzehnte früher geboren, hätte ich Angst, dass sie mich finden.
Wie dünn dieser Firnis ist, den wir Kultur nennen und Zivilisation.
Schlagwörter: Deutschland, Diskussionskultur, Henryk Goldberg, Religion