von Hannes Herbst
Auf dem Weg von Wrocław nach Krakau an einem ganz gewöhnlichen Wochentag im Frühsommer die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, insbesondere die Dauerausstellung im Bereich des sogenannten Stammlagers, aufsuchen zu wollen, klappt nur, wenn man Tickets sehr langfristig vorher – eher Monate als Wochen – online gebucht hat. Überdies ist zwischen April und Oktober der Zugang für individuelle Interessenten nur vor 10:00 und nach 15:00 Uhr möglich; die Zwischenzeiten sind organisierten Führungen (auch in deutscher Sprache) vorbehalten. Anders ist der jährliche Strom von inzwischen 2,1 Millionen Besuchern (2018) nicht mehr zu bewältigen.
Diese Informationen ließen sich rasch im Internet recherchieren, als wir uns in Wrocław, der ersten Station unserer Polenreise, spontan zu einem Abstecher nach Auschwitz entschlossen. Unsere vage Hoffnung, vor Ort schon irgendwie in den Ausstellungsbereich zu gelangen, erfüllte sich allerdings nicht. Das ahnten wir schon, als wir auf den eng belegten Parkplätzen nur mit Mühe noch eine Lücke für unser Gefährt fanden.
So blieb nur, den kostenfreien viertelstündlichen Shuttlebus zum Gelände Auschwitz II, Birkenau, dem eigentlichen Vernichtungslager, zu nehmen, auf dem freier Zugang gewährt wird.
Man betritt dieses Areal durch das Tor der Hauptwache, durch die seinerzeit auch die Transportzüge mit überwiegend jüdischen Menschen rollten, die der „Endlösung“, so die Sprachregelung der Nazi-Führung für die industrielle Vernichtung der Juden Europas, zugeführt wurden. Über dem Tor zur Verhöhnung der todgeweihten Opfer die zynischen Verheißung „Arbeit macht frei“.
Man läuft dann direkt auf die Rampe zu, an der die Züge ihre Fracht freigaben und wo jene Selektionen durch SS-Ärzte stattfanden, in denen Frauen und Kinder nahezu komplett und generell um die 75 Prozent aller Ankommenden sofort für die Gaskammern bestimmt wurden. Auf die übrigen wartete Vernichtung durch Arbeit bei permanenter Mangelernährung und unter katastrophalen hygienischen sowie gesundheitlichen Verhältnissen.
Insgesamt wurden in Auschwitz 1,1 Millionen Menschen umgebracht, rund eine Million davon waren Juden. Allein ab Mai 1944 wurden in nur 56 Tagen etwa 424.000 ungarische Juden mit Eisenbahntransporten nach Auschwitz verfrachtet und dort ermordet.
Die Vorgänge selbst entziehen sich menschlichem Vorstellungsvermögen. Doch in Vorbereitung auf einen Besuch dieser Horrorstätten könnte man sich zum Beispiel einige – heute über Streaming- und Ausleihdienste in der Regel leicht beschaffbare – Spielfilme zumuten. Und dabei keineswegs zuvorderst „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg (1993), weil darin von der tagtäglichen Apokalypse der Vernichtungslager vieles ausgespart und der Holocaust selbst nicht direkt ins Bild gesetzt wurde.
Das trifft auf Tim Blake Nelsons „Die Grauzone“ (2001) nicht zu. Diesem Film liegen der Bericht des ungarischen jüdischen Gerichtsmediziners und Häftlings Miklós Nyiszli, der dem KZ-Arzt Josef Mengele assistieren musste, und Aufzeichnungen sowie Aussagen von überlebenden Angehörigen der sogenannten Sonderkommandos zugrunde. Über letztere schrieb Primo Levi, Überlebender von Auschwitz, in seinem Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“ (1986), es sei „das dämonischste Verbrechen des Nationalsozialismus“ gewesen, die Juden selbst zu zwingen, die Angehörigen ihres Volkes beim Auskleiden zu beruhigen, sie nach ihrer Ermordung aus den Gaskammern zu holen, die Leichen in den Krematoriumsöfen zu verbrennen und schließlich die Knochenreste zu zertrümmern, um die Spuren zu tilgen. Das war, so Levi, zugleich der Versuch, „das Gewicht der Schuld auf andere, nämlich die Opfer selbst, abzuwälzen“. Das entsprechende Kapitel des Buches heißt „Die Grauzone“.
Nelsons Film zeigt mit dokumentarischer Präzision den Alltag eines dieser Sonderkommandos, die in regelmäßigen Abständen selbst liquidiert und durch neue Häftlinge ersetzt wurden. – In Deutschland kam das Drama überhaupt erst 2005 in die Kinos. Von einem Medienhype wie bei „Schindlers Liste“ konnte dabei allerdings keine Rede sein.
Und nicht zuletzt gehört „Sophies Entscheidung“ von Alan Pakula (1982) in diese Aufreihung – das sehr berührende Schicksal einer jungen polnischen Mutter, die mit ihren zwei Kindern nach Auschwitz deportiert wird. (Ein weitere Hauptrolle für Meryl Streep in diesem Sujet – nach der vierteiligen US-Fernsehserie „Holocaust“ von 1978, durch die, als sie Anfang 1979 im BRD-Fernsehen lief, erstmals ein breites deutsches Publikum explizit mit dem Millionenmord an den Juden konfrontiert wurde, von dem in der Generation der Täter und ihrer unmittelbaren Nachkommen nicht wenige gewusst hatten, dieses Wissen aber über Jahrzehnte verdrängen konnten.)
In Birkenau unmittelbar steht heute außer der Hauptwache, der Kommandantur, sehr wenigen Baracken und der Stacheldrahteinzäunung des Lagers fast nichts mehr. Doch den Weg von der Rampe zu den Überresten der nahe gelegenen Gaskammern und Krematorien, die nach der Befreiung des Lagers gesprengt wurden, kann man gehen, und einige Informationstafeln geben Auskünfte.
Über den boomenden Tourismus zu dieser Gedenkstätte vermeldete Die Welt schon vor ein paar Jahren: „In Auschwitz benehmen sich sämtliche Altersklassen wie im Freizeitpark.“ Gemeint war damit insbesondere die taktlose Unsitte des Schießens von Selfies: „In einer der Sanitärbaracken des Lagers stehen Jugendliche über die Latrinen gebeugt und halten sich mit theatralischen Gesten die Nasen zu.“ Die Fotos hätten sie anschließend online gestellt – unter dem Rubrum „Memories of the Holocaust“. Und das ZEIT MAGAZIN berichtete Anfang des Jahres unter anderem: „Man trifft hier Menschen, die am Tag zuvor zum ersten Mal von Auschwitz gehört haben. Wie die Touristengruppe aus Melbourne, die gerade in Krakau angekommen ist […]. Aber ihr Hotel hat ihnen ein Angebot gemacht: ein Tag in Auschwitz-Birkenau für umgerechnet 36 Euro, ‚im bequemen Van von Mercedes-Benz, inklusive Wi-Fi und Klimaanlage‘, so stand es im Prospekt.“ Und: „Auschwitz bricht nicht nur Besucherrekorde, es gilt auch als Ort des ‚dark tourism‘, an dem man sich gruseln kann. Wie am Ground Zero oder in Tschernobyl. Manche Besucher wollen gleich zu Beginn in die Gaskammer, andere fragen, wie das sei, zu ersticken.“
„Und am Ende kommen Touristen“ heißt Robert Thalheims Auschwitz-Film von 2007, den man sich ebenfalls ansehen sollte. Im Vergleich zu den von Welt und ZEIT MAGAZIN benannten Auswüchsen allerdings war die Welt damals zwar auch schon nicht in Ordnung, ließ aber noch keineswegs erahnen, was als nächstes kommen würde.
Wird fortgesetzt.