22. Jahrgang | Nummer 15 | 22. Juli 2019

Thüringer Quartett – Weimar

von Alfons Markuske

Goethe, Schiller, Herder, Wieland, um nur die größten Fixsterne am Firmament der deutschen Klassik zu benennen, könnten zu der Vermutung führen, dass Weimar zur Zeit von deren Wirken dortselbst nicht nur eine geistig-kulturelle, sondern auch eine weltliche Metropole gewesen sein müsse. Aber dem war keineswegs so.
Als Goethe 1775 nach Weimar kam, war der Ort eher Dorf als Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Weimar. Lediglich circa 6000 Einwohner, statt Straßen überwiegend eher Feldwege und enge, winklige Gassen – bevölkert von Schweinen und Hühnern. Mitten hindurch der „Lotte“-Kanal, mehr stinkende Kloake denn Gewässer, weil er den Einwohnern zur Einleitung ihrer Abwässer diente. Die Häuser bescheiden bis ärmlich, oft nur einstöckig und selten Stein auf Stein errichtet. Stattliche Bürgerhäuser wie das später Goethe übereignete am Frauenplan waren die Ausnahme. Zweimal pro Woche erschien eine Zeitung, doch das Postamt öffnete immerhin an vier Wochentagen. Überdies war zwei Jahre vor dem Eintreffen Goethes das Schloss, das damals einen erheblichen Teil der Stadtfläche ausmachte, vollständig abgebrannt – eine Ruine. Herzoginwitwe Anna Amalia und ihr Sohn Carl August mit seiner Gattin Luise wohnten getrennt in normalen Bürgerhäusern …
Die deutsche oder auch Weimarer Klassik genannte Periode zwischen 1786 und 1832 änderte am Allgemeinzustand des Städtchens nicht so viel, dass George Henry Lewes, ein englischer Schriftsteller und Philosoph, dessen „The Life of Goethe“ 1855 erschien und der Weimar Ende der 1830er Jahre besucht hatte, nicht hätte berichten können: „Nun bin ich in der Hauptstadt des Großherzogtums Weimar – das ist ein sehr seltsamer kleiner Ort, obwohl er das Athen von Deutschland genannt wird, wegen der großen Dichter, die hier lebten […] Stellt euch eine stille Kleinstadt vor, ohne Droschken, Omnibusse, sehr wenige Karren und kaum eine Kutsche, ohne Gasbeleuchtung der Straßen; diese werden – nur im Winter – von Öllampen beleuchtet, welche auf einem Seil oberhalb der Straße aufgehängt sind.“
Heute hingegen ist Weimar eine pulsierende, prachtvoll herausgeputzte Kleinstadt mit immerhin über 65.000 Einwohnern. Nimmt man das Goethe- und Schiller-Denkmal vor dem Weimarer Nationaltheater, das den begnadeten Zeichner F. K. Waechter von der Neuen Frankfurter Schule vor Jahrzehnten zu einer hübschen Blasphemie* reizte, zum Ausgangspunkt, dann lässt sich in einem anderthalbstündigen Rundgang in gemächlichem Flaneurtempo ein erster Eindruck gewinnen. Bis zum Herderplatz mit Stadtkirche Sankt Peter und Paul (Herderkirche) ist es nur einen Steinwurf weit. Darinnen ein dreiflügeliges Altarbild, von dem man lange angenommen hatte, das es noch vom älteren Cranach – der war 1552 als 80-Jähriger seinem Dienstherrn nach Weimar gefolgt, hatte dort wieder eine Werkstatt aufgemacht und Schüler angenommen – begonnen und nach dessen Tod (1553) vom jüngeren fertiggestellt worden sei. Aufgrund aktueller Forschungen wird nunmehr der Sohn als alleiniger Schöpfer angesehen. Als nicht weniger bedeutend als dieses Hauptwerk der sächsisch-thüringischen Kunst des 16. Jahrhunderts gilt auch der sogenannte Lutherschrein in der Kirche – ein Triptychon mit unterschiedlichen Bildnissen des Reformators.
Das Herderdenkmal vor der Kirche schmeichelt dem Geistesheroen insofern, als es nicht unbedingt erahnen lässt, dass der Mann sich in reiferem Alter, wo immer er längere Zeit weilte, Spezialstühle anfertigen ließ, die seiner Leibesfülle Rechnung trugen.
Wiederum nur wenige Fußminuten entfernt stößt man auf das Stadtschloss. Derzeit wegen umfassender Instandsetzung leider großenteils geschlossen. Doch von der nahegelegenen Anna-Amalia-Bibliothek sollte man zumindest das frei zugängliche Vestibül „mitnehmen“. Nach dem verheerenden Großbrand mit unwiederbringlichen Verlusten in den historischen Beständen im Jahre 2004 sind nicht nur das Gebäude und sein Interieur wieder in ihre alte Pracht versetzt worden, sondern es sind auch zahlreiche durch den Brand und die nachfolgenden Löscharbeiten teils schwer geschädigte Bücher mit modernsten Mitteln und sehr aufwändig restauriert worden. Darüber informiert eine höchst interessante Ausstellung im Eingangsbereich der Bibliothek, die auch ohne Entrichtung eines Obolus besucht werden kann. Was die Bibliothek selbst anbetrifft, so ist der Besucherzugang auf 50 Personen pro Stunde begrenzt. Da empfiehlt sich der vorherige Erwerb von Tickets via Internet.
Von der Bibliothek bis zum Weimaraner Marktplatz ist es abermals bloß ein Katzensprung. Auf der Ostseite des Platzes das Cranach-Haus, eines von zwei fast identischen, Wand an Wand stehenden Renaissance-Gebäuden, das heute das „Theater im Gewölbe“ beherbergt, das insbesondere kleinere Stücke von Goethe, Schiller und Zeitgenossen aufführt. Vis-à-vis auf der Westseite das Rathaus aus dem Jahre 1841 im neugotischen Stil, und zwischen beiden, Südseite, das berühmte Hotel „Elephant“, dessen Original, das seit 1696 ein Wirtshaus beherbergt hatte, 1937 wegen Baufälligkeit einem Neubau weichen musste. Auf der gegenüber liegenden Nordseite „residiert“ heute wieder die Hof-Apotheke, die 2017 ihr 450-jähriges Jubiläum feiern konnte. Nach weitgehender Zerstörung des Gebäudes im Zweiten Weltkrieg und späterem Komplettabriss hatte die Apotheke jahrzehntelang ein Ausweichquartier in der Frauentorstraße genutzt. Erst 1993 war eine Rückkehr an den angestammten Platz möglich, nachdem die Nordzeile des Marktes wieder aufgebaut worden war, inklusive der weitgehend originalgetreuen Rekonstruktion von vier Bürgerhäusern, darunter das der Hof-Apotheke.
Mit wenigen Schritten vom Marktplatz aus steht der Besucher schließlich vor dem Wohnhaus Friedrich Schillers mit dem Dichtermuseum, bevor der Rundgang Minuten später nicht wieder an seinem Ausgangspunkt, dem Theaterplatz, endet, sondern beim Goethehaus am Frauenplan 1.
1782, zunächst nur in einem Teil des Gebäudes, hatte sich der Dichter eingemietet, bis ihm Herzog Carl August das Haus im Jahre 1794 in Gänze schenkte. Erst nur mündlich, aber am 12. Januar 1807 auch mit offizieller Übereignung. So blieben Gebäude und zugehöriger Garten nach Goethes Tod 1832 im Besitz der Familie. Erst nach dem Hinscheiden von Goethes letztem Enkel Walther 1885 fielen das Haus und Goethes umfangreiche Sammlungen testamentarisch an den Weimeraner Staat. Der gründete unverzüglich das Goethe-Nationalmuseum in Gestalt einer Stiftung, und bereits am 3. Juli 1886 öffneten sich die Pforten des Museums erstmals. In dem 1935 errichten Erweiterungsbau erwartet den Besucher seit 2012 die neu eingerichtete Dauerausstellung „Lebensfluten – Tatensturm“ mit ihrem selbst formulierten Anspruch „Alles über Goethe“. Angesichts einer Überfülle von Exponaten wahrscheinlich nur eine lässliche Übertreibung.
Um die Mittagsstunde lenkten wir unseren Schritt in Richtung Restaurant „Scharfe Ecke“, einer Institution in der Altstadt unweit des Herderplatzes. Dort kredenzt bereits auf dem Trottoire vor dem Eingang die Kloßmarie jene landestypische Spezerei, die sie im Namen führt, und ein Aufsteller neben ihr teilt mit, dass der Guide Michelin die dortigen Thüringer Klöße im Jahr 2018 zu den allerbesten geadelt habe. Die Gaststube ist überschaubar und war bei unserem Eintreffen restlos ausgebucht. Aber zu 17:00 Uhr seien Plätze zu haben, wurde uns beschieden. Gesagt, getan, und der Aufsteller hatte nicht zu viel versprochen. Zum Service des Hauses gehört übrigens, dass man für sehr kleines Geld die Klöße mit Soße auch bar jeglicher Beilagen und selbst einzeln ordern kann.
Den Tag beschloss ein Besuch im Galli Theater. (Ähnliche Häuser gibt es in Großstädten wie Hamburg, Dresden und Berlin, doch auch in – New York.) Das One Man Musical „Orpheus“, mit dem Krispin Wich an diesem Abend samt Gitarre sowie Ohrwürmern von Beatles, Stones und Kollegen auf der intimen Bühne stand, hätte mehr als nur 14 Zuschauer verdient gehabt. Doch die ließen sich auf diese zwar der Sage von Orpheus und Eurydike folgende, musikalisch jedoch auf ganz andere Weise klassische Performance ein, waren enthusiasmiert und erklatschten sich mehrere Zugaben.
Unsere Stippvisite in Weimar endete leider, ohne dass wir Franz Liszt, Friedrich Nietzsche, das Bauhaus und andere gebürtige oder temporäre prominente Weimaraner überhaupt nur touchiert hätten.
Am nächsten Tag war Bad Frankenhausen das letzte Ziel unserer Tour.

Wird fortgesetzt.

* – Da die Zeichnung hier aus urheberrechtlichen Gründen nicht gezeigt werden kann, soll zur Anregung der Phantasie derjenigen, die auch durch Google-Eingabe von „Waechter+Goethe+Denkmal“ den Cartoon nicht finden, wenigstens die Bildunterschrift wiedergegeben sein: „Goethe spielt Flöte / auf Schiller sein’ Piller“.