von Alfons Markuske
Die von mittelalterlichen Fachwerkhäusern und Sakralbauten geprägte Erfurter Altstadt zählt heute zu den schönsten in Deutschland. (Behauptete unsere Stadtführerin, und wir fanden keine Veranlassung zu widersprechen.) Zu verdanken ist das einem kriegsgeschichtlichen Zufall und einer weltpolitischen Volte.
Zu Beginn des Jahres 1945 war Erfurt mit bis dahin lediglich zwischen fünf und sieben Prozent kriegsgeschädigter Gebäude zwar von anglo-amerikanischen Flächenbombardements nahezu verschont geblieben, sollte jedoch das Schicksal fast aller anderen deutschen Großstädte gegen Kriegsende doch noch teilen. So die westalliierten Planungen. Anfang April waren Verbände der Royal Airforce praktisch bereits in Richtung Erfurt in der Luft, als die Spitzen der US-Armee Gotha erreichten und vor dem Einmarsch in Erfurt standen. Daher wurde den Bomberpulks ein anderes Ziel zugewiesen – Nordhausen. Die Stadt wurde zu drei Viertel zerstört und ihr historischer Stadtkern, dem von Erfurt nicht unähnlich, unwiederbringlich vernichtet.
Zu DDR-Zeiten konnten sich nur wenige historische Gebäude und repräsentative Fassaden Erfurts, etwa um den Domplatz, einer mehr oder weniger intensiven Erhaltung erfreuen, während die innerstädtische Gesamtsubstanz dem Verfall deutlich stärker preisgegeben wurde, als dass diesem Prozess entgegengewirkt worden wäre. Insofern kam die welthistorische Volte in Gestalt der Implosion des real existierenden Sozialismus auch für die Erfurter Altstadt gerade noch rechtzeitig.
Das Ergebnis kann bewundern, wer die Stadt heute besucht, die in mehreren Armen von der Gera durchflossen wird, was ihr die Adelung als Klein-Venedig bescherte. Sorgfältig instandgesetzt findet der Besucher die pittoreske Krämerbrücke – die einzige noch bewohnte, durchgängig mit Fachwerkhäusern bebaute Brücke nördlich der Alpen. Den Vergleich mit dem weltberühmten Ponte Vecchio in Florenz muss dieses Kleinod nicht scheuen. Erstmals 1117 urkundlich erwähnt, war das hölzerne Bauwerk bis 1293 schon sieben Mal ein Opfer der Flammen geworden. Dann reichte es dem Rat zu Erfurt, der alle Brückenrechte an sich zog und einen steinernen Neubau veranlasste, der 1325 fertiggestellt wurde. Fachwerkbuden inklusive, seinerzeit jedoch noch nicht zu Wohnzwecken. Auch diese Buden wurden ein Opfer der Flammen – beim großen Stadtbrand von 1472. Danach erhielt die Krämerbrücke – der Name selbst ist seit 1510 nachgewiesen – ihre heutige Gestalt. Von den damals errichteten 62 Fachwerkhäusern sind noch 32 erhalten.
Im Haus Krämerbrücke 2 findet sich ein Geschäft, das Textilien im Farbton des früher weit über die Stadtgrenzen hinaus geschätzten warmen Erfurter Blaus anbietet. Der zur Herstellung der Farbe benötigte Waid wird am Stadtrand angebaut und in Manufakturweise verarbeitet. Ob dies allerdings noch nach der ursprünglichen Rezeptur erfolgt, dafür gibt es auf der Brücke heute zumindest keine olfaktorischen Indizien. Früher wurde der Waid nämlich ausschließlich mit dem Urin junger Männer angesetzt, was nicht nur bei sommerlichen Temperaturen im Wortsinne gegen den Wind gestunken haben dürfte. Und am benötigten Ausscheidungsprodukt dürfte kein Mangel geherrscht haben, denn in jenen fernen Tagen, so unsere Stadtführerin, habe jeder Erfurter vom Säugling bis zum Greis über 30 Eimer Bier pro Jahr geschlabbert. Die Maßeinheit Eimer fasste 70 Liter. Überschlägig ergäbe das allerdings knapp sechs Liter pro Kopf und Tag, aber vielleicht haben die Erfurter ja auch darin gebadet … Auf jeden Fall war in Erfurt zu jener Zeit „blau machen“ – der Begriff wurde verwendet – keine hedonistische Eskapade, sondern eine wirtschaftlich höchst notwendige Verrichtung.
Geradezu dörfliche Idyllen mit Einfamilienhäusern, Hausgärten und stillen Gassen im Erfurter Zentrum entdeckt, wer durch die Areale um das Augustinerkloster streuselt. Und dieses selbst birgt viel Geschichte. Schon 1266 hatte sich der Orden in der damals bereits blühenden Metropole Thüringens angesiedelt. Von 1505 bis 1511 lebte Martin Luther in diesen Mauern, wurde dort zum Mönch ordiniert und las am 2. Mai 1507 seine erste Messe. Die 700-jährigen Fenster in der Klosterkirche mit ihrer prächtigen Glasmalerei hatte auch Luther schon vor Augen.
Der schwärzeste Tag in den Annalen des Klosters datiert auf den 25. Februar 1945. Englische Bomber warfen zwei Luftminen, von denen eine einen besonders verheerenden Volltreffer landete: Sie detonierte über der Klosterbibliothek, in deren Kellergewölben 268 Menschen im Alter zwischen drei Monaten und 83 Jahren Schutz gesucht hatten. Die Wucht der Explosion brachte das Gebäude zum Einsturz und begrub die Menschen unter sich. Lediglich ein junges Mädchen konnte gerettet werden.
Ein beeindruckendes architektonisches Ensemble am Rande des insgesamt sehr schönen Domplatzes der Stadt bilden der Dom Sankt Marien selbst und die direkt neben ihm nicht minder wuchtig empor ragende Sankt Severikirche allein schon deshalb, weil sich beide Bauwerke auf einer leichten Anhöhe befinden, die – so die offizielle Bezeichnung – Domberg zu nennen allerdings purer Euphemismus ist. Um die Haupteingänge der Gotteshäuser zu erreichen, muss man eine siebzigstufige breite, sich nach oben verjüngende Freitreppe hinaufschreiten. Das hat schon was! Im 81,26 Meter hohen Turm des 1117 als Sankt Marien erstmals urkundlich bezeugten Doms hängt überdies mit der 1497 gegossenen Gloriosa die größte freischwebende mittelalterliche Kirchenglocke der Welt (Gewicht: 11,45 Tonnen). Um sie ertönen zu lassen bedurfte es einst acht kräftiger Männer, und wegen der Schönheit ihres Klanges wird sie gelegentlich auch als omnium campanarum regina (Königin aller Glocken) gepriesen.
Beherrscht wurde Erfurt über Jahrhunderte von Mainz. Schon im Jahre 1000 erlangte der dortige Erzbischof, damals mächtigster Kirchenmann in deutschen Landen und später einer der sieben Kurfürsten, die die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation wählten, auch die weltliche Herrschaft über Erfurt, und diese endete endgültig erst mit dem Übergang der Stadt an Preußen im Jahre 1802.
Um ihrer Herrschaft ordentlich Nachdruck zu verleihen, griffen die Mainzer zu einem probaten Mittel. Auf den Hügel gegenüber Dom und Severikirche pflanzten sie eine Zitadelle. Solche Zwingburgen wurden immer als Bestandteil der Stadtbefestigungsanlagen oder innerhalb derselben errichtet, um im Falle feindlicher Eroberung als letzter Rückzugsort zu dienen. Den Erfurtern hingegen zeigte „ihre“ 1730 fertiggestellte Zitadelle vor allem eines sehr demonstrativ: nämlich, wo der Hammer hing.
Von der Mainzer Herrschaft zeugt heute noch das Erfurter Stadtwappen: Es durfte, auf rotem Untergrund, nur ein Rad aufweisen – im Unterschied zu dem von Mainz. Das hat zwei. Auch auf rotem Untergrund. Nachtragend sind die Erfurter aber offenbar nicht: Bereits seit 1988 sind beide Orte städtepartnerschaftlich verbunden. Und in der imposanten früheren kurmainzischen Statthalterei residiert heute der Ministerpräsident Thüringens. (Prominentester Nutzer war während des Erfurter Fürstenkongresses vom 27. September bis zum 14. Oktober 1808 Napoléon Bonaparte, der in der Statthalterei wohnte und arbeitete. Und mit Goethe zusammentraf.)
Sind des Besuchers Beine und Füße vom Erlaufen Klein-Venedigs schließlich rechtschaffen ermüdet, lässt sich‘s im Irish Pub „Molly Malone“ unweit der Krämerbrücke trefflich einkehren und bei Guinness oder anderem vollmundigen Gebräu die Lebensgeister wieder ertüchtigen. Doch Vorsicht! Die Preise für beste Islay-Whiskys sind so, dass man versucht sein könnte, sich auch einen über den Durst zu genehmigen.
Wir taten das nicht, denn am nächsten Tag erwartete uns der Wallfahrtsort der deutschen Klassik – Weimar.
Wird fortgesetzt.
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