von Hubert Thielicke
Von Helmuth Graf von Moltke (1800–1891), preußischer Generalfeldmarschall und Heerführer, ist der Satz überliefert: „Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner…“ Während Politiker und Militärs damals das Recht auf Krieg – ius ad bellum – als gottgegeben betrachteten, waren Philosophen wie Immanuel Kant und Schriftstellerinnen wie Bertha von Suttner ihrer Zeit weit voraus.
Nicht zuletzt im Gefolge zweier verheerender Weltkriege hat sich das Denken weitgehend gewandelt, zumindest in der Wissenschaft. Davon zeugen nicht zuletzt jährliche Berichte wie das Friedensgutachten deutscher Friedensforschungsinstitute oder das SIPRI Yearbook über Rüstung, Abrüstung und internationale Konflikte.
Umfassend und tiefgehend beschäftigt sich das in diesem Jahr erschienene „Handbuch Frieden“ mit der Thematik, die zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage des Handbuchs von 2011. Ein Kompendium, das weit über die traditionelle Friedensforschung hinausgreift. 66 Autoren geben aus unterschiedlicher disziplinärer Perspektive, oft unterlegt mit eigenen friedenspraktischen Erfahrungen sowie Fallstudien, einen Überblick über Herausforderungen für Friedensforschung und Friedenspolitik. Das Buch richtet sich nicht nur an Lehrende, Forschende und Studenten, sondern an alle friedenspolitisch Interessierten. Ausgangspunkt ist, wie die Herausgeber feststellen: „Keines der bekannten globalen Probleme und auch nicht ihre tieferliegenden Konfliktursachen lassen sich mittels militärischer Gewalt überwinden.“ In 57 Beiträgen werden friedensfördernde und friedensgefährdende Aspekte in drei Themengruppen behandelt.
Davor gibt ein Beitrag von Reinhard Meyers einen Überblick zum Thema „Krieg und Frieden“. Zum Wesen des Krieges heute stellt er fest: Erstens habe sich mit den nuklearen Massenvernichtungswaffen der klassische (große) Staatenkrieg ad absurdum geführt; im Falle seines Einsatzes mache das Mittel den Zweck, dem es dienen soll, obsolet. Zweitens trete Krieg heute in einer Vielzahl regionaler und lokaler Waffengänge auf, wobei innerstaatliche und transnationale Kriege überwiegen. Wie viele Autoren des Buches lässt sich Meyers vom Zusammenhang von Frieden und Gewalt nach Johan Galtung leiten: „negativer Frieden“ als Abwesenheit direkter oder personaler Gewaltanwendung, „positiver Frieden“ als Abwesenheit indirekter oder struktureller Gewalt.
Die erste Themengruppe behandelt den Friedensbegriff in historischer, politischer und wissenschaftlicher Perspektive. Die Autoren beschränken sich nicht auf die theoretische Seite, sondern beziehen auch die politische Praxis ein. So setzt sich der ehemalige Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen) mit Interventionen auseinander, die immer wieder als angebliche Einsätze für den Frieden gerechtfertigt werden. Kritisch betrachtet er den NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999: „Der erste Krieg der NATO außerhalb des Bündnisfalls und die erste Kriegsbeteiligung eines demokratischen Deutschlands war nicht durch ein Mandat des VN-Sicherheitsrats legalisiert und verstieß somit gegen das internationale Gewaltverbot.“ Die Analyse bisheriger Auslandseinsätze der Bundeswehr lässt ihn einschätzen, dass in der deutschen Politik und in der Bundeswehr – anders als bei einigen Verbündeten – kaum jemand an militärische Konfliktlösung glaube. Der schwerstwiegende politische und Führungsfehler sei die bis heute fehlende systematische und unabhängige Wirkungsanalyse deutscher Einsatzbeteiligungen.
Um das „Begriffsfeld Frieden“ geht es im zweiten Abschnitt – vom gerechten Frieden über Friedensbewegung, Friedensethik und europäische Friedensordnung bis zu Friedensverhandlungen und Friedensverträgen. So können letztere nach Hans J. Gießmann und Paul Schäfer zwar einen wichtigen Beitrag zum Frieden leisten, sie bilden jedoch nur den gemeinsam vereinbarten Ausgangspunkt für einen Prozess zu einem dauerhaften Frieden. Unter dem Stichwort Friedensmacht beschäftigt sich Hans-Georg Ehrhardt vor allem mit der Rolle der EU. Dabei geht es ihm um einen „internationalen Akteur, der die ganze Palette seiner Fähigkeiten für die Prävention und konstruktive Bearbeitung von Gewaltkonflikten im Rahmen internationaler Governance-Strukturen einbringt.“ Bei der im Weißbuch der Bundesregierung von 2016 anvisierten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion bleibe die entscheidende Frage, welchem Zweck und welchen Zielen sie dienen und wer sie kontrollieren solle. Im Beitrag über die europäische Friedensordnung weist Ursula Schröder zu Recht darauf hin, dass die Forschungsdiskussion heute häufig auf die Rolle der EU eingeschränkt ist, während die gesamteuropäische Friedensordnung weniger zentral gesehen werde. Auch die Rolle Europas in der Welt müsse systematisch in den Blick genommen werden.
Mit 42 Texten gehört der weitaus größte Teil der Beiträge zur dritten Themengruppe: „Friedenskontexte“. Sie sollen wichtige Zusammenhänge beleuchten, „in denen Frieden konzeptionell, praxeologisch und praktisch eine tragende Rolle bereits besitzt oder erlangen kann“. Das umfasst solche Detailfragen wie Frieden und Diplomatie, Frieden und Vereinte Nationen oder Frieden und Völkerrecht, aber auch Frieden und Literatur oder sozialer Frieden. Wie in den Zeiten der Systemkonfrontation ist die nukleare Abschreckung heute wieder das sicherheitspolitische und militärische Leitkonzept vor allem von USA und NATO. Detailliert weist Wolfgang Schwarz nach, dass Frieden und Abschreckung einen antagonistischen Gegensatz bilden. Eng verbunden damit ist das Thema Frieden und Militär, dessen Beitrag zum Frieden Jörn Thiessen ambivalent sieht: Einerseits dienen Streitkräfte dazu, Kriege zu verhindern, andererseits verfügen sie über die Instrumente zur Kriegführung. Thiessen konstatiert, dass deutsche Truppen im Rahmen des NATO-Einsatzes Enhanced Forward Presence in Litauen stehen und damit „ein Signal an Geschlossenheit und Entschlossenheit“ geben. Welches Signal die Präsenz deutscher Soldaten nahe der russischen Grenze der anderen Seite gibt, scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen.
Mit wichtigen Aspekten der Abrüstung befassen sich vor allem Götz Neuneck (Rüstungskontrolle/Abrüstung), Marc von Boemcken (Konversion) und Gerald Kirchner (Naturwissenschaftliche Friedensforschung). Durch viele Beiträge zieht sich die Diskussion einer ganzen Reihe in der heutigen Friedens- und Konfliktforschung umstrittener Fragen wie das Verhältnis von Demokratie und Frieden: „Demokratien führen (fast) keine Kriege gegeneinander“, Peacebuilding, humanitäre Interventionen, Responsibility to Protect (Schutzverantwortung).
Das Handbuch erfasst ein außerordentlich breites Themenspektrum. Prüfenswert wäre, ob sich die sehr umfangreiche dritte Themengruppe klarer strukturieren ließe, also beispielsweise in Abschnitte wie Militärisches/Abrüstung, internationale Verfahren, Recht, Kultur/Sport/Soziales. Denkbar erscheinen auch spezielle Beiträge zu Themen wie Frieden und Wettrüsten oder Waffenexporte, die in dem einen oder anderen Text angerissen werden. Im regionalen Fokus steht Europa, doch gibt es auch in anderen Regionen interessante Entwicklungen, wie beispielsweise Vereinbarungen über kernwaffenfreie Zonen oder Friedenszonen. Auch die Thematik Frieden und Staatenzerfall, etwa im postsowjetischen Raum, die sich in den Konflikten in der Ukraine und im Kaukasus widerspiegelt, ist sicher der Erörterung wert. Das gilt auch für die sich in Eurasien herausbildenden neuen Realitäten. Organisationen wie die Eurasische Wirtschaftsunion oder die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit lediglich als autokratisch geprägte regionale Organisationen zur Verhinderung demokratischer Entwicklungen abzutun, ist wohl zu kurz gesprungen. Immerhin ist die Shanghaier Organisation mit acht Mitgliedern, darunter China, Russland und Indien, und circa 3,4 Milliarden Einwohnern die weltweit größte Regionalorganisation.
Das wären einige Anregungen zum Weiterdenken. Dennoch: Im deutschen Sprachraum kommt wohl keiner, der sich mit Fragen von Frieden, Krieg, Krisen, Konflikten beschäftigt, um das neue Handbuch Frieden herum.
Hans J. Gießmann, Bernhard Rinke (Hrsg.): Handbuch Frieden, Springer VS, Wiesbaden 2019, 803 Seiten, 89,99 Euro.
Schlagwörter: Friedensforschung, Handbuch Frieden, Hubert Thielicke, Krieg, Rüstung