22. Jahrgang | Nummer 14 | 8. Juli 2019

Eine Sommergeschichte

von Renate Hoffmann

Nun ist sie angekommen, die heitere Jahreszeit. Man sollte sie im oder auf dem Wasser genießen können. Dazu eine Insel und rundherum Ufer mit schöner Gegend. Ein See. In der Voralpenlandschaft. Der Chiemsee, das „bayrische Meer“. – Drei Inseln, Blick auf die Alpenkette; Wechsel von Wald- und Moorgebieten, Schilfbestände, in denen gelbe Irisblüten schaukeln. Sonnenauf- und -untergänge als lyrische Zwischenspiele.
Fahrt über den See. Bei leichtem Morgenwind, unter seidenweichem Himmel. Der Glockenturm mit der Zwiebelhaube, weithin sichtbares Wahrzeichen der Fraueninsel, spiegelt sich im Wasser. Das Ländchen, nach der unbewohnten Krautinsel das nächstgrößere im Inseldreigestirn, darf sich rühmen, bereits in keltischen Zeiten besiedelt gewesen zu sein.
Tassilo III., bayrischer Herzog, stiftete im 8. Jahrhundert eine Frauenabtei auf dem Eiland und versah sie mit Landbesitz zur Sicherung des klösterlichen Lebens. Das Kloster Frauenwörth, wie es sich nennt, überstand Brände, Reformation und Säkularisation. Und trägt nun die Würde von mehr als 1200 Jahren. Die erste nachweislich benannte Äbtissin hieß Irmengard (um 830–866) und war Tochter König Ludwigs des Deutschen. Das Kloster unterstand in der Folge ausschließlich dem König (oder dem Kaiser). Ein Vorzug in der Selbstverwaltung.
Wie ein Schmuckstück in Sommerfarben liegt die Insel vor mir. Wilder Mohn auf den Wiesen, Blumenpracht in den Gärten der kleinen Ortschaft mit der Tradition eines Fischerdorfes. In blendendem Weiß jedoch bestimmen die Klostergebäude das Bild. Der Eintritt ohne Voranmeldung ist nicht erwünscht. Ich schaue durch das Gitter in einen weiträumigen Hof und seine Rosenfülle. Die Mittagswärme verstärkt ihren Duft.
Im Münster „Mariä Opferung“ geht man durch drei Epochen der Baugeschichte: vom romanischen Portal in das spätgotische Mittelschiff und zum Hochaltar in barockem Überfluss. Beschwingt erhebt sich das Netzrippengewölbe, ausgeschmückt mit floralem Zierrat, über Seitenaltären, Kapellen und den Reliquien der Seligen Irmengard.
Der Friedhof birgt eine Überraschung. Gepflegt, kunstvolle Grabkreuze und Denkmäler mit verschlüsselten Symbolen, Blumenflor und knirschende Kieswege. Zur Ruhe fanden am stillen Ort Professoren, Akademiemitglieder, Künstler, Schriftsteller, Ärzte, Juristen. „Hier liegt Felix Schlagintweit Arzt und Schriftsteller“ (1868–1950); Heinrich Kirchner, Bildhauer (1902–1984); Wilhelm Jensen, Schriftsteller und Lyriker (1837–1911); das Familiengrab derer von Eichendorff (Enkel des Dichters); Max Haushofer, Landschaftsmaler (1811–1866), der im Jahr 1828 die „Malerkolonie Frauenwörth“ mitbegründete. Ich frage nach und erhalte den Hinweis, dass auf der Herreninsel, der größten im Inselbunde, Näheres über die Künstlergemeinschaft zu erfahren wäre.
Dort wandere ich nicht zu König Ludwigs II. Prunkbau, dem „Klein Versailles“, sondern zum Augustiner-Chorherrenstift, genannt das „Alte Schloss“. Und erlebe die nächste Überraschung.
Die Klostergründung geht auf das 8. Jahrhundert zurück. Im 12. Jahrhundert wurde aus der vormaligen Benediktinerabtei das Augustiner-Chorherrenstift. Um- und Ausbauten durch die Zeiten führten zum jetzigen Erscheinungsbild einer großrahmigen barocken Anlage. Nach der Säkularisation und mehrfachem Besitzerwechsel kaufte Ludwig II.1873 die Insel, um sie für seinen pompösen Schloss-Neubau zu nutzen. In den Stiftsgebäuden richtete man für ihn Wohn- und Arbeitsräume ein.
75 Jahre danach fand in den Mauern mit der langen Geschichte ein Ereignis von politischer Tragweite statt. Vom 10. bis zum 24. August 1948 tagte dort der Konvent zur Vorbereitung des Grundgesetzes und der deutschen Verfassung
Im „Alten Schloss“ entstand im Jahr 1998 ein Museum, dessen Vielfalt letztlich doch auf den Ort des Geschehens fixiert ist: Dauerausstellung „Auf dem Weg zum Grundgesetz“; Geschichte des Klosters; Wohnung Ludwigs II.; Galerie „Maler am Chiemsee“; Gemäldegalerie Julius Exter. – In der aufschlussreichen Dokumentation zur Nachkriegsgeschichte notiere ich mir aus der Vorlage Grundrechte: „Art. 1 Ab. 1 Der Staat ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um des Staates willen.“
Im Themenkreis „Maler am Chiemsee“ wird meine Neugier befriedigt. Das Künstlervolk, vor allem aus den Münchner Gruppierungen, entdeckte beizeiten die Schönheit des Voralpenlandes, verließ die Ateliers und zog mit Staffelei und Palette in die freie Natur. Der Chiemsee bot die Motive. Und der Umbruch in der Kunst vom akademischen Stil zur impressionistischen Malweise deutete sich schon an.
Im Jahr 1828 besuchten vier junge Maler die Fraueninsel. Unter ihnen Max Haushofer. Sie blieben den Sommer lang. Die Gründung der „Malerkolonie Frauenwörth“ war beschlossene Sache. Jährliche Aufenthalte folgten. Die kleine Insel und der Künstlerkreis wirkten wie ein Magnet. Andere Malerkollegen kamen. Man arbeitete, inszenierte Ausstellungen, feierte Feste. Der gute Ruf der Kolonie breitete sich aus. Und „begründete die Vorstellung vom Malerparadies Chiemsee.“
In einer von 1841 bis 1932 geführten „Künstlerchronik von Frauenchiemsee“ sind nicht nur viele Maler zu finden, sondern auch Schriftsteller. Neben anderen Felix Dahn, Victor von Scheffel, Erich Mühsam. – Die Traditionen der Malerkolonie reichten bis ins 20. Jahrhundert.
In der Galerie „Maler am Chiemsee“ sind die Künstler mit ihren Werken und Biografien vertreten. Von der Frühzeit an. Georg von Dillis (1759–1841) und Peter von Hess (1792–1871), der in seinen Gemälden die wunderbare Harmonie der Landschaft am See dem Betrachter nahebringt. – Aus den Jahren um 1900. Zu den Malern, die sich zu dieser Zeit am Chiemsee aufhielten, gehörten Max Slevogt (1868–1932) und Julius Exter (1863–1939), Mitbegründer der „Münchner Secession“. Dem Maler, Bildhauer und Kunstbesessenen ist eine große Ausstellung gewidmet, in der man seinem Weg zur eigenen künstlerischen Handschrift folgen kann.
Auf dem Oberdeck des Dampfers ziehen die Bilder an mir vorüber. Berge, der ruhende See, die Fraueninsel und das Farbenspiel des Sonnenuntergangs. In den Anblick versunken, versäume ich den Landgang am Ufer. Ich eile nach unten. „Halt! Ich muss aussteigen!“ Ein Mann vom Schiffspersonal ruft nach oben: „Franz, halt die Maschine an! Hier ist eine Frau, die will noch raus!“ Franz hält die Maschine an und setzt zurück. Das Schiff wird vertäut, der Steg ausgeschoben. Ich bedanke mich und gehe erleichtert in Gstad zu meinem Nachtquartier.