22. Jahrgang | Nummer 12 | 10. Juni 2019

Viele unbeantwortete Fragen

von Ulrich van der Heyden

Der französische Präsident Emmanuel Macron kündigte Ende 2017 während einer Afrikareise an, dass die französische Regierung innerhalb der nächsten fünf Jahre in Zusammenarbeit mit den betroffenen Ländern eine „zeitweilige oder dauerhafte Rückgabe des afrikanischen Erbes“ ermöglichen will.
Er erschreckte die Fachwelt und in Deutschland verfiel man in eine Art Panik, gibt es doch in deutschen Museen eine Reihe von Objekten aus Afrika, die auf zum Teil unbekannten Wegen nach Deutschland gelangt waren. Einige zivilgesellschaftliche Initiativen wie „Decolonize Berlin“ machten unter Verweis auf Macron Druck auf das Humboldt-Forum, wo sie eine „koloniale Trophäenschau“ befürchten.
Dabei wird gern übersehen, dass die von Frankreichs Präsident in Algier gemachte Ankündigung, die „Schädel der Märtyrer“, also der algerischen Freiheitskämpfer im Befreiungskrieg von 1954 bis 1962, zurückzugeben, nur unter der Bedingung erfolgen soll, wenn die sogenannten „harkis“, also diejenigen algerischen Soldaten, die auf Seiten der Franzosen im Algerienkrieg gegen ihre Landsleute kämpften und nach der Unabhängigkeit ihr Land verlassen mussten, wieder nach Algerien, wo sie als Quislinge gelten, zurücksiedeln dürfen.
In jedem Fall ist eine solch komplexe Frage nach der Herkunft der in entsprechenden Sammlungen lagernden Exponate von überseeischen Kulturen nicht einfach zu beantworten. Selbst bei den sogenannten Human Remains, also vor allem Schädeln, Skeletten und sonstigen menschlichen Überresten, die in den Magazinen nicht nur der europäischen Völkerkundemuseen, sondern auch in naturkundlichen und anatomischen Sammlungen vorhanden sind, ist es äußerst schwierig, die regionale Herkunft zu bestimmen.
Die Rückgabe von Kulturgütern nach Afrika wirft zudem praktische Fragen auf. So gibt es in den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika kaum adäquate Aufbewahrungs- und Ausstellungsorte sowie ausgebildetes Personal. Viele Museen mit entsprechender technischer und museologischer Ausrüstung stehen in Afrika ohnehin nicht zur Verfügung. Angesichts der ökonomischen Situation in vielen Ländern in Afrika südlich der Sahara wäre es geschmacklos, da sind sich wohl fast alle Afrikakenner einig, wenn für den Bau und den Erhalt von Museen und deren Unterhalt Millionen ausgegeben werden und davor Menschen sitzen und hungern.
In seiner Ankündigung zur Restitution afrikanischer Objekte hatte Emmanuel Macron sich dazu hinreißen lassen, zu sagen: „Es gibt keine Afrikapolitik Frankreichs mehr!“ Das dürfte nicht nur seine Beamten im Außenministerium verwundert haben, sondern auch die Augen offenhaltenden Besucher westafrikanischer Länder.
Gehören zur „Afrikapolitik“ nunmehr nicht mehr die vielen dort stationierten oder als Berater tätigen Militärs oder Fremdenlegionäre? Oder die französischen Unternehmen, die in Afrika die Bodenschätze abbauen, oder der CFA-Franc oder der kulturelle (Frankophonie) Einfluss? Soll der südliche Nachbarkontinent Europas nun einfach sich selbst überlassen werden? So sehr Macrons Rede in Afrika auch den Anschein von einer antikolonialen Einstellung vermitteln möchten, so steht dem seine Rechtfertigung militärischer Interventionen in Afrika entgegen.
Der Staatschef aus Paris hatte seine Rede in Burkina Faso mit der Absichtsbekundung beendet, ein „gemeinsames Bewusstsein“ aufzubauen, und zwar mithilfe der Restitution afrikanischen Kulturerbes sowie der Förderung verschiedener kultureller Projekte. Gegenüber Politikern anderer Länder, betonte er aber seine auf Frankophonie beruhenden Träume: „Französisch wird die erste Sprache Afrikas und vielleicht der Welt.“
Zum einen möchte Macron also einen wichtigen Aspekt kolonialer Herrschaft erhalten und ausweiten („Beherrschung durch Sprache“) und andererseits scheint ihn ein Trauma zu plagen: „Ich kann nicht akzeptieren, dass ein großer Teil des Kulturerbes mehrerer afrikanischer Länder in Frankreich ist. Es gibt historische Erklärungen dafür, aber es gibt keine echte, dauerhafte und unabänderbare Rechtfertigung, dass sich afrikanisches Kulturerbe in privaten Sammlungen und europäischen Museen befindet.“ Die angekündigten Rückgaben von musealen Gegenständen sollen wissenschaftlich begleitet werden, jedoch ist dies nach französischem Recht so nicht zu realisieren.
Das macht die auf den ersten Blick löbliche Absicht des Staatschefs fragwürdig und weist auf eine Vernebelungstaktik hin. Die geforderte Zusammenarbeit der betreffenden Museen existiert bereits. Einige Nationalmuseen in Afrika sind mit europäischem Know-how und finanzieller Unterstützung entstanden, so in der ghanaischen Hauptstadt Accra, welches zurzeit allerdings geschlossen ist. Wer einige solcher zentralen Museen kennt und sich von den dort Verantwortung tragenden Fachleuten und Politikern informieren lässt, wird erfahren können, dass derartige Bewahrungs- und Ausstellungsinstitutionen lediglich über begrenzte Kapazitäten verfügen, sei es in Bezug auf die finanzielle und personelle Ausstattung, die Ausstellungsflächen oder vor allem auf die für eine Unterbringung unbedingt notwendigen klimatisierten Magazine. Auch ist zu fragen, mit welchen Besuchern können die Museen rechnen, wenn die einheimische Bevölkerung nicht einmal ausreichend Geld fürs Überleben hat?
Welche Beziehungen können also auf gleichberechtigter Basis ausgebaut werden, wenn ein europäischer Politiker suggeriert, was gut für Afrika ist und wie ein Museum dort zu funktionieren hat?
In der Zwischenzeit hat Macron keinerlei Erläuterungen zu seinen in Afrika gemachten Ankündigungen nachgereicht. Er hat vielmehr die deutsch-französische Kunsthistorikerin, die allerdings bislang nicht mit Forschungen oder gar Publikationen zur außereuropäischen Kunstgeschichte hervorgetreten ist, Bénédicte Savoy, sowie Felwine Sarr aus dem Senegal damit beauftragt, eine Kommission zu leiten. Angesichts dieser Fakten sind wohl Zweifel an der Ernsthaftigkeit der „Rückgabe“-Ankündigungen angebracht.
Fragen über Fragen drängen sich auf: Von welchen Museen und welche Objekte sollen „rückgeführt“ werden? Auch diejenigen, die nachweislich gekauft oder geschenkt worden sind? Was ist mit Privatsammlungen? Wer kann Anträge auf Rückführung stellen? Sollen Objekte repatriiert werden, die absehbar wegen fehlender Voraussetzungen dem Zerfall oder Beschädigungen ausgesetzt sein werden? Was geschieht mit den Stücken, auf die kein Rückführungsantrag vorliegt? Sind die Museen in Afrika in der Lage, die rückgeführten Objekte sachgerecht aufzubewahren und zu präsentieren? Was passiert mit den repatriierten Kunstwerken, wenn sie wieder auf dem europäischen Kunstmarkt auftauchen?
Mit solchen Fragestellungen beschäftigte sich eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe beim Deutschen Museumsbund und hat im Mai 2018 einen „Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ herausgegeben. Unter Berücksichtigung der dort herausgearbeiteten Richtlinien gilt es dennoch zu klären, was geschehen soll, wenn weder Nachfahren noch Menschen aus derjenigen Ethnie, die die betreffenden Objekte herstellte, nicht mehr existieren. Können ethnische Gemeinschaften oder nur Staaten oder Privatpersonen einen solchen Antrag stellen? Was ist, wenn keinerlei museale Voraussetzungen existieren, zurückgeführte Objekte sachgerecht aufzubewahren? Profitiert im Falle einer Rückgabe nur eine kleine Oberschicht? Wie soll entschieden werden, wenn die repatriierten Museumsstücke lediglich dem Tourismus zum Nutzen Weniger dienen sollen? Werden auch Objekte in solche afrikanischen Museen zurückgegeben, die nicht den heutigen europäischen ethischen Standards entsprechen, wovon ein „Herrschermuseum“ in Benin zeugt, wo hunderte von Totenschädeln den „Palast“ einsäumen und wo der „Thron“ des afrikanischen Herrschers auf menschlichen Schädeln und Knochen erschlagener ehemals rivalisierender Afrikaner steht? Der „Leitfaden“ gibt keine eindeutigen Antworten.
Die wichtigste politische Frage aber bleibt der Neokolonialismus Frankreichs, die Rückgabe musealer Objekte ändert kaum etwas am Gesamtbild.

Dr. Ulrich van der Heyden, Jahrgang 1954, ist Afrika- und Kolonialhistoriker sowie Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Afrika. Er lebt und arbeitet in Berlin sowie zeitweise in Pretoria.