22. Jahrgang | Nummer 12 | 10. Juni 2019

Torschlusspanik

von Waldemar Landsberger

Bei den Europawahlen 2019 haben die CDU 7,5 Prozent und die SPD 11,4 Prozent im Vergleich zu 2014 verloren, die CSU mit „Weber-Effekt“ ein Prozent hinzugewonnen. Zusammen kamen sie auf noch 44,7 Prozent, während es bei der vorigen Wahl 62,6 Prozent waren.
Die SPD fiel anschließend in eine tiefe Depression, die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) in Torschlusspanik. Sie machte einen jungen, blauhaarigen Youtuber, der ein fast einstündiges Video gegen diese Parteien ins Netz gestellt hatte, das bis zur Wahl etwa elf Millionen Menschen angeklickt hatten, als Schuldigen aus und rief nach Ordnungsmaßnahmen. Selbst ihre Parteifreunde winkten ab, das Recht auf freie Meinungsäußerung habe schließlich grundrechtemäßigen Verfassungsrang.
Das laute „Haltet den Dieb!“-Geschrei sollte jedoch lediglich von einer Debatte um den Zustand der Christdemokraten ablenken. Zunächst wird landauf, landab gefragt, wofür diese Partei eigentlich steht und was sie nach 14 Jahren Merkel-Kanzlerschaft noch will. Bereits die Frage ist Ablenkung. Die CDU/CSU will nur regieren, mit welchem geschriebenen Programm auch immer. Der Klassen- und Parteiauftrag seit Mitte der 1940er Jahren lautet, die günstigsten inneren und äußeren Bedingungen für die deutsche Kapitalwirtschaft zu sichern. Im Grunde befindet sich die Partei zum dritten Mal am Ende einer langen Kanzlerschaft: 1963 waren alle, auch in der CDU, der Meinung, dass 14 Jahre Kanzler Konrad Adenauer reichen, und ekelten ihn weg. 1998 wollte Helmut Kohl nach 16 Jahren Kanzlerschaft noch einmal für vier Jahre antreten und verlor die Bundestagswahl. Angela Merkel wird, wenn sie 2021 gehen sollte, ebenfalls 16 Jahre regiert haben. Um Druck aus dem innerparteilichen Kessel zu nehmen, hat sie 2018 den Parteivorsitz an AKK übergeben und regiert „mit ruhiger Hand“ weiter das Land und die Europäische Union.
Dass der Youtuber an dem Stimmungstief für die CDU schuld sein soll, ist an sich schon Camouflage. Das Tischtuch zwischen den Christdemokraten und den netzaffinen jungen Menschen war bereits vor wenigen Monaten zerschnitten worden, als auf Betreiben von Christdemokraten im April das neue Urheberrecht der EU beschlossen wurde, das die kreativen Gestaltungsräume im Internet beschneidet, die großen Medienkonzerne bevorrechtet („Klassen- und Parteiauftrag der CDU“) und die Netzanbieter – ebenfalls große Konzerne – autorisiert, die Präsentationen gegebenenfalls zu löschen. Da waren durch viele deutsche Städte Demonstrationszüge unter der Losung gezogen: „Nie wieder CDU!“ Das ist nun so. Der Youtuber hat sich nur auf diese Welle gesetzt und zugleich das Klima-Thema bedient.
Zugleich liegen der Debatte, die nach AKKs hilflosem Auftritt in den digitalen wie den herkömmlichen elektronischen wie Holzmedien anhob, zwei Fehlwahrnehmungen zugrunde. Die eine unterstellt, dass elf Millionen Klicks auch bedeuten, dass elf Millionen Menschen sich das Opus des jungen Mannes auch bis zu Ende angeschaut hätten. Das ist keineswegs sicher. Wohl aber, dass er nun landesbekannt ist und sich die Prominenz auf seinem Bankkonto niederschlagen wird. Insofern kann man diese Art Weltrettungs-Agieren auch als Geschäftsmodell im Zeitalter des digitalen Kapitalismus ansehen.
Die andere Fehlwahrnehmung geht von einer falschen anthropologischen Voraussetzung aus. Die Erfinder von Reklame und Propaganda haben bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts gemutmaßt, wie man die Leute dazu kriegt, dass sie in der Tat das glauben oder kaufen, was die Reklame oder Propaganda bezweckt. Nach der berühmten „Willy-Wahl“, bei der die SPD mit Bundeskanzler Willy Brandt an der Spitze 1972 stärkste Partei wurde, diskutierten die demoskopische Vordenkerin der CDU, Elisabeth Noelle-Neumann aus Allensbach, und der Wahlkampfchef der SPD, Holger Börner, welche Rolle denn die „Meinungsführer“ beziehungsweise „Meinungsbildner“ am Arbeitsplatz, im Verein oder in der Familie gespielt hätten. Der „Influencer“ (nicht zu verwechseln mit Influenza) heutzutage ist dieselbe Gestalt, nur im digitalen Zeitalter. So wie in all den Auseinandersetzungen um Trump in den USA stets unterstellt wird, die Wähler hätten ihn gewählt, weil es elektronische russische Einflussversuche auf die Wahlen gegeben hätte, nimmt AKK an, die Wähler hätten die CDU nicht gewählt, weil es das Video des Youtubers gegeben habe. Das ist völliger Unsinn. Niemand kann ein ganzes Elektorat auf Dauer manipulieren.
Hinzu kommt die Unterstellung, „die Jugend“ verstehe die Christdemokraten oder die überkommenen Parteien nicht mehr. In den Interviews mit den schon etwas älteren Aktivisten der Freitagsbewegung gegen den Klimawandel (meint die Mittzwanziger von den Universitäten, die sich den Schülern hinzugesellten) sagten etliche, dass sie in „grünen“ Haushalten aufwuchsen, in denen ihre „grünen“ Eltern oder 68er Großeltern bereits am Küchentisch mit ihnen über Umweltfragen diskutiert hatten. Während also die traditionellen gewerkschaftlichen oder sozialistischen Milieus, von denen die Sozialdemokratie und die Linke seit 150 Jahren lebten, und die christlichen, vor allem katholischen Milieus, auf denen die Christdemokratie aufruhte, erodierten – womit sich die bundesdeutsche Politikwissenschaft seit Jahren befasst – ist unter der Hand ein „grünes“ Juste Milieu akademisch gebildeter, urbaner, global orientierter, meist gut verdienender Menschen entstanden, deren idealtypische Gestalt der vegane Radfahrer ist und deren Kinder und Enkel jetzt revoltieren. Der Niedergang von Christ- und Sozialdemokratie einerseits und der Aufstieg der Grünen sind Ausdruck dieser Veränderung.
Zugleich ist „Jugend“ kein Wert an sich. Untersuchungen über das Ende der Weimarer Republik zeigen, dass viele junge Menschen die hohe Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit Anfang der 1930er Jahre als Ergebnis des parlamentarischen Systems mit seinen Kompromissen und Halbheiten ansahen. 1930 waren 70 Prozent der NSDAP-Mitglieder jünger als 40 Jahre, 65 Prozent der Funktionäre unter 40 Jahre und 26 Prozent jünger als 30 Jahre. Im Reichstag von 1930 waren 10 Prozent der SPD-Abgeordneten jünger als 40 Jahre, aber in der NSDAP-Fraktion etwa 60 Prozent. Während sich also damals der Protest der verarmten, perspektivlosen Jugend überwiegend nach rechts orientierte (und in geringerem Maße nach links, zur KPD), schaut die aus überwiegend wohlhabenden Verhältnissen kommende Jugend heute in eine linksliberale Richtung. Die damals wollten die Welt erobern, die heute die Welt retten. Das ist ein unübersehbar positiver Unterschied.
Aber der Gestus der Ablehnung des politischen Systems der Alten ist analog. Das ist übrigens ein Grund, weshalb der politische Neuanfang nach 1945 von alten Männern repräsentiert wurde, die bereits in der Weimarer Republik eine Rolle gespielt hatten: Bundeskanzler Konrad Adenauer und Wilhelm Pieck, der erste Präsident der DDR, waren Jahrgang 1876, der Liberale Wilhelm Külz Jahrgang 1875.
In Deutschland erreichten die Grünen bei der Europawahl 20,5 Prozent und wurden nach den Christdemokraten zweitstärkste Partei; das war ein Zuwachs gegenüber 2014 um 9,8 Prozent. Europaweit war das Ergebnis deutlich moderater: 9,5 Prozent gegenüber 6,7 Prozent. In Schweden erreichten die Grünen 11,4 Prozent und verloren im Vergleich zu 2014 3,8 Prozent. Auf die Frage, warum dieses gegen den Trend liegende Resultat erzielt wurde, antwortete der Stockholmer Klimaforscher Sverker Sörlin laut SpiegelOnline, die hätten schließlich seit Jahren in Schweden mitregiert. Insofern erklärt sich das deutsche Ergebnis auch mit der Oppositionsrolle der Grünen auf Bundesebene: sie können fordern, was sie wollen, und sind für nichts verantwortlich. Dann kam die Frage, warum es denn keinen „Greta“ (Thunberg)-Effekt in Schweden gegeben habe, worauf Sörlin entgegnete: diese Art Klima-Aktivismus sei für viele Länder neu gewesen, in Schweden kenne man den seit langem.
Eine Umfrage unter deutschen Politikjournalisten Anfang 2019 über ihre persönlichen Politikpräferenzen ergab, dass gut ein Drittel (36,1 Prozent) keine habe; dagegen gaben 26,9 Prozent die Grünen an, 15,5 Prozent die SPD, nur 9 Prozent die CDU/CSU, 7,4 Prozent die FDP und 4,2 Prozent Die Linke (de.statista.com). Vielleicht erklärt sich manches zu den derzeitigen Debatten in Deutschland auch von hier aus.