von Dieter B. Herrmann
Manche halten es mit Goethes Faust und für sie sind Namen nur Schall und Rauch, flüchtig und vergänglich wie diese. Das gilt auch für Straßennamen, die – besonders nach politischen Umbrüchen – oft und gern ausgetauscht werden, meist begleitet von leidenschaftlich geführten Debatten der Befürworter und Gegner solcher Aktionen. Ob die Namen der Ausgetauschten dann wirklich für immer als Rauch verschwunden sind, sei dahingestellt. Zumindest für Wissenschaftler hingegen ist ein ganz anderes geflügeltes Wort von hohem Reiz: „nomen est omen“. Denn welcher Forscher fände es nicht erstrebenswert, den eigenen Namen mit einem Phänomen, einem Gesetz oder einem Instrument verbunden zu sehen, das er entdeckt beziehungsweise erfunden oder gebaut hat. So bleiben die Namen von Erfindern und Entdeckern weit über ihre eigene Lebenszeit im Gedächtnis. Vom „Avogadro-Gesetz“ über „Gaußsche Osterformel“ bis zum „Zöllner-Fotometer“, ließen sich beliebig viele Beispiele aufzählen, die den Namen eines Wissenschaftlers für die Annalen auf immer mit seiner Leistung verknüpfen. Selbst, wer sich aus seiner Schulzeit nicht mehr exakt daran erinnert, dass alle Gase bei gleichem Druck und Temperatur in gleichen Rauminhalten die gleiche Anzahl von Teilchen enthalten, weiß doch sofort: Diese Erkenntnis ist dereinst von Avogadro gefunden wurden.
Auch in der Astronomie gibt es viele Entdeckungen, die mit dem Namen ihres Entdeckers verbunden wurden. Eines von ihnen ist das „Hubble-Gesetz“. Es besagt, dass sich alle Galaxien voneinander entfernen und zwar mit umso größerer Geschwindigkeit, je weiter sie voneinander entfernt sind. Das Universum befindet sich also in ständiger Expansion, – es wird immer größer. Diese Aussage stellt allerdings bereits eine Interpretation dessen dar, was Edwin Hubble (1889–1953) tatsächlich 1929 entdeckt hatte. Seine Feststellung bezog sich nämlich auf die Rotverschiebungen der Spektrallinien in den Spektren extragalaktischer Objekte, die umso größer ausfielen, je weiter die Objekte entfernt sind. Nur wenn man diese Verschiebung zum roten Ende des Spektrums – wie inzwischen allgemein akzeptiert – als sogenannten „Doppler-Effekt“ deutet, ergibt sich daraus die Expansion des Universums. Der seitdem als Hubble-Gesetz bezeichnete Zusammenhang besagt also, dass die kosmologische Rotverschiebung eines extragalaktischen Objekts linear mit seiner Entfernung zunimmt.
Schaut man sich die Geschichte dieser Entdeckung von Hubble etwas genauer an, so kommen allerdings noch weitere Namen ins Spiel, denn die meisten Entdeckungen haben eine Vorgeschichte. So auch diese. Einen großen Anteil an Hubbles Entdeckung ist zunächst Milton Humason (1891–1972) zuzuschreiben, der als ehemaliger Maultiertreiber und späterer Assistent Hubbles einen großen Teil der fotografischen Aufnahmen mit extrem langen Belichtungszeiten durchführte, die für diese Entdeckung notwendig waren. Aber auch schon vor Hubble hatten bereits andere die merkwürdigen Linienverschiebungen in den Spektren von Galaxien als Funktion ihrer Entfernungen bemerkt. Einer von ihnen war der der US-Amerikaner Vesto Slipher (1875–1969), der schon 1912–1915 die Rotverschiebung von sogenannten Spiralnebeln nachwies, ohne allerdings deren Entfernungen und eigentliche Natur als Sternsysteme zu kennen.
Hingegen fand der deutsche Astronom Carl Wirtz (1876–1939) in den Jahren 1922–1924 in Kiel zwei wichtige Beziehungen: die eine zwischen den Helligkeiten und den Linienverschiebungen und die andere zwischen diesen und den Winkeldurchmessern von damals sogenannten „Nebeln“. Beide Größen sind Entfernungsindikatoren. Nimmt man grob an, dass alle Sternsysteme etwa gleich groß und gleich hell sind, dann bedeuten geringere Winkeldurchmesser ebenso wie geringere Helligkeiten auch größere Distanzen. Somit hatte also Wirtz als Erster – allerdings nur qualitativ – die Expansion des Universums aufgespürt.
Auch Theoretiker hatten nach dem Erscheinen von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie (1915) Weltmodelle daraus abgeleitet, wie zum Beispiel Einstein selbst. Doch während Einstein 1917 ein statisches Universum vorschlug, widersprachen ihm zwei andere: Alexander Friedmann (1888–1925) in der Sowjetunion und Georges Lemaître (1894–1966) in Belgien. Friedmann zeigte 1922, dass die Gleichungen Einsteins im Allgemeinen einen expandierenden oder kontrahierenden, aber keinen statischen Kosmos verlangten. Lemaître veröffentlichte einige Jahre später (1927) eine erste Arbeit, in der die Expansion des Universums bereits ausführlich beschrieben wurde und ließ dieser Arbeit 1931 – nach Hubbles Entdeckung – eine weitere folgen, die praktisch das expandierende Universum aus einem „Urknall“, das er „Uratom“ oder „Kosmisches Ei“ nannte, theoretisch aufzeigte. Nachdem nun Hubble die Expansion entdeckt hatte, wurden nach und nach auch die unbeachtet gebliebenen Arbeiten von Friedmann und Lemaître bekannt und Einstein selbst musste sich bekehren lassen, dass sein statisches Modell nicht der Realität entsprach.
Es war also eine Menge geschehen zwischen 1912 und 1929. Doch der Ruhm blieb allein an Hubble kleben.
Das rief nun jetzt die Internationale Astronomische Union auf den Plan, die den Vorschlag unterbreitete, künftig nicht mehr vom „Hubble-Gesetz“, sondern nur noch vom „Hubble-Lemaître-Gesetz“ zu sprechen, um die Leistung des Belgiers ebenfalls zu würdigen. Bei ihrer Tagung zum 100. Jahr ihres Bestehens in Wien (2018) fand dieser Vorschlag auch sogleich eine Mehrheit der anwesenden Mitglieder. Doch damit nicht genug: Man wollte in demokratischer Manier eine Befragung aller Mitglieder und führte anschließend ein elektronisches Voting durch. Wie bei allen Abstimmungen ist jede Stimme von gleichem Gewicht, unabhängig davon, mit welchem Wissenshintergrund der Einzelne seine Entscheidung trifft. Möglicherweise geht nicht nur das Wissen des „Wählers“ in ein solches Votum mit ein, sondern auch seine politischen oder religiösen Anschauungen. Das könnte bei der nunmehr erfolgten elektronischen Abstimmung der Internationalen Astronomischen Union durchaus der Fall gewesen sein. Friedmann war ein Sowjetbürger, als er seine wichtigen Lösungen der Einstein-Gleichungen fand. Lemaître ein überzeugter Katholik und ab 1960 Präsident der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Papst Pius XII. hat seine Hypothese über das „Uratom“ als Ursprung des Universums im Jahre 1951 sogar als den Beweis für den göttlichen Schöpfungsakt bezeichnet, auch wenn Lemaître dem nicht zustimmte und mit dem Papst darüber in einen Clinch geriet.
Das Voting ist übrigens zugunsten des Vorschlages der IAU ausgegangen: 78 Prozent der abgegebenen Stimmen sprachen sich für den neuen Namen aus. Die meisten Mitglieder der IAU scheint das Ganze aber kaum interessiert zu haben, denn die Wahlbeteiligung lag nur bei mageren 37 Prozent. Über die Rechtsverbindlichkeit einer auf diese Weise zustande gekommenen Namensänderung hat vermutlich ohnehin noch niemand nachgedacht.
Ein verspäteter Doppel-Name für ein Gesetz ist in der Astronomie nichts ganz Einmaliges. Immerhin gibt es ein berühmtes Diagramm, das zunächst als Russell-Diagramm durch die Literatur geisterte, benannt nach dem US-astronomischen Forscher Henry Norris Russell, der es 1913 publiziert hatte. Inzwischen aber heißt es in Mit-Würdigung des dänischen Erstentdeckers (1905/1907) seit vielen Jahrzehnten „Hertzsprung-Russell-Diagramm“ (HRD). Den neuen Namen hatte allerdings damals niemand beschlossen oder per Voting herbeigeführt. Da hat sich die historische Gerechtigkeit einfach von selbst Bahn gebrochen.
Schlagwörter: Astronomie, Dieter B. Herrmann, Georges Lemaître, Hubble-Gesetz, Ursprung des Universums, Weltmodelle