von Manfred Orlick
Von jeher ranken um Spionage- und Geheimdienste unzählige Mythen. Allein das Wort „Geheimdienst“ beflügelt die Fantasie. Die Geheimniskrämerei um diese nebulöse Schattenwelt nährt zusätzlich diesen Mythos. An diesen Legenden, Erfindungen und Fehlwahrnehmungen zu rütteln, war für Christopher Nehring, „Leiter Forschung“ am Deutschen Spionagemuseum in Berlin, nicht nur eine spannende Auseinandersetzung, sondern gehört auch zu seiner Auffassung „eines demokratischen Umgangs mit den Geheimdiensten“.
Vieles hat sich in der Welt der Geheimdienste zwar geändert, aber noch immer halten sich hartnäckig absurde Unwahrheiten – obwohl Mythen nicht immer unwahr sein müssen. Mit seiner Enträtselung der „77 größten Spionage-Mythen“ wollte Nehring endlich den Schleier lüften und gleichzeitig das große Tabu über die einst so gefürchteten Institutionen brechen. Aus den 77 hätten auch leicht 777 Mythen werden können; doch die hätten nicht auf 256 Seiten gepasst. Daher beschränkte sich der Autor auf den deutschsprachigen Raum, ergänzt durch einige prägnante Beispiele aus der Weltgeschichte der Geheimdienste.
„Mythos Nr. 01“ beschäftigt sich mit der ungenauen Bezeichnung für Mitarbeiter dieses Metiers – von Spion, Agent, V-Mann, Quelle, Kontaktperson, Kundschafter, Informant bis zum saloppen „Schlapphut“. Ein weiterer Mythos ist, dass alle Agenten Einzelkämpfer und absolute Alleskönner sind; dabei würde ein Universalgenie wie James Bond heute wahrscheinlich durch das Raster des Jobprofils fallen. Andere kuriose Ammenmärchen sind „Spione machen keinen Urlaub“ oder „Geheimdienste haben keine Telefonnummer“. Auch die Vorstellung „Geheimdienste interessieren sich nicht für das Wetter“ gehört ins Reich der Falschbehauptungen, denn die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Klimawandels sind längst zu Aufgaben von geheimen Nachrichtendiensten geworden. Schließlich geht es bei der Gefahrenanalyse nicht nur um die globale Erwärmung sondern auch um zukünftige Konflikte und Rohstoffressourcen.
Außerdem beleuchtet Nehring die Ermittlungen (und das Versagen) der Geheimdienste bei Attentaten und Terroranschlägen, so beim Papstattentat vom 13. Mai 1981 oder den Anschlägen vom 11. September 2001. Bei jedem neuen Terroranschlag fragen Medien und Öffentlichkeit, warum keiner der Sicherheitsdienste davor warnte und warum keine entsprechenden Schritte eingeleitet wurden. Wie sich in den meisten Fällen herausstellte, waren Hinweise und Erkenntnisse durchaus vorhanden, sie wurden jedoch nicht richtig verarbeitet. An dem „Fall“ des Kanzleramtsspions Günter Guillaume kommt Nehring natürlich auch nicht vorbei. Trotz aller Sicherheitsüberprüfungen des Bonner Apparates konnte der DDR-Spion bis ins Kanzleramt vordringen. Die Geschichte war jedoch mehr Mythos als Realität, denn sie war ein riesiger Misserfolg. Der Sturz von Bundeskanzler Willy Brandt lief schließlich den Absichten der DDR völlig entgegen.
Die letzten der 77 Mythen sind dem berühmtesten Geheimagenten der Welt, James Bond, vorbehalten. So ein Teufelskerl sollte natürlich unsterblich sein, doch auch das ist ein Mythos. Ebenso die gefährlichen und spektakulären Stunts. Und selbst der berühmte „Wodka Martini, geschüttelt, nicht gerührt“ tauchte erst in den späteren Bond-Romanen und -Filmen auf. Das Buch schließt mit zwei innerdeutschen Mythen: „Der BND und die DDR hatten keinen James Bond.“ Doch weit gefehlt! „Agent 18“ und Spion Hansen („For Eyes Only“) waren ein fiktionales Gegengewicht zu „Agent 007“.
Fazit: Den Leser erwartet kein hochwissenschaftliches Sachbuch sondern eine unterhaltsame Lektüre, die etwas Licht in das sagenumwobene Dunkel der Geheimdienste bringt. Und überraschenderweise ist die Wahrheit mitunter bizarrer als der Mythos selbst.
Christopher Nehring: Die 77 größten Spionage-Mythen enträtselt, Wilhelm Heyne Verlag, München 2019, 256 Seiten, 9,99 Euro.
Schlagwörter: Christopher Nehring, Geheimdienste, Manfred Orlick, Spione