von Erhard Crome
Während die deutschen Grünen mit ihren einfachen Antworten auf komplizierte Fragen im Lande von dem „Greta-Effekt“ profitiert haben und das Parteiensystem erschütterten, sieht das Bild in Europa deutlich differenzierter aus. Hier wurden die Grünen viertstärkste Partei und erhielten 69 von insgesamt 751 Sitzen im Europäischen Parlament. Ihre Abgeordneten kommen aus 18 Ländern; der Zuwachs um 19 Sitze resultiert jedoch aus wenigen Ländern. 21 grüne Abgeordnete kommen aus Deutschland, zwölf aus Frankreich und elf aus Großbritannien – die beim Brexit aus dem Europäischen Parlament ausscheiden.
Stärkste Fraktion wurde mit 180 Sitzen wieder die Europäische Volkspartei (Christdemokraten), trotz des Verlustes von 41 Sitzen – Orbáns Fidesz-Partei wird trotz der Querelen im Vorfeld der Wahlen weiter bei der EVP aufgeführt. Zweitstärkste Fraktion sind weiter die Sozialdemokraten mit 146 Mandaten (Verlust 45), drittstärkste die Liberalen mit 109 Sitzen; sie hatten einen Zuwachs um 42 Mandate, darunter 21 durch das Hinzukommen von Macrons Parteienkoalition.
Das wichtigste strukturelle Ergebnis ist, dass es keine Mehrheit der Christdemokraten und Sozialdemokraten mehr gibt, die in den vergangenen Jahrzehnten alle wichtigen Entscheidungen im Europäischen Parlament unter sich ausgemacht hatten. Durch Vereinbarung mit den Liberalen gibt es jetzt eine Mehrheit dieser drei Fraktionen mit 435 Sitzen, unter Hinzuziehung der Grünen mit 504 Sitzen. Dieser bürgerliche Block wird die Politik im Europäischen Parlament in der nächsten Legislaturperiode bestimmen. Dabei zeichnet sich ab, dass er sich „nach links“ und „nach rechts“ auch strukturell abgrenzt und unter anderem der linken GUE/NGL-Fraktion (Konföderale Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke) den Sitz im EP-Präsidium streitig macht, den sie bisher innehatte.
Die Linken gehören ebenfalls zu den Verlierern der EU-Wahl. Sie erreichten voraussichtlich nur noch 38 Mandate – vor fünf Jahren waren es 52, ein Verlust von 14 Sitzen. Berücksichtigt man, dass die Linken – im Sinne von: links der Sozialdemokratie – im Jahre 1979 einen Wähleranteil von 10,7 Prozent hatten, der jetzt 5,06 Prozent beträgt, so muss festgestellt werden, dass die Linke das Ende des Realsozialismus nach wie vor nicht verkraftet hat und alle konzeptionellen und programmatischen Neuversuche nicht „die Massen erreicht“ haben. Das entschlossene „Jein“ der deutschen Linken zur EU hat das Ihre dazu beigetragen, dass eine gewachsene Zahl von Wählern sie bei der Auseinandersetzung um die Zukunft der EU für überflüssig hält.
Die GUE/NGL ist jetzt die kleinste Fraktion im EP. Je sechs Abgeordnete kommen von der spanischen Unidos Podemos und der griechischen Syriza, fünf von der deutschen Linken (vorher sieben), vier aus Portugal, je zwei aus Irland und Zypern, ansonsten Einzelabgeordnete aus verschiedenen Ländern. Ob die französische La France Insoumis Mélenchons sich der Fraktion wieder anschließt, gilt derzeit noch als nicht gesichert. Die Französische Kommunistische Partei, einst eine starke Kraft der Linken in Europa, ist nicht mehr im EP vertreten, die italienische Linke ebenfalls nicht.
Von den bürgerlichen Parteien der neoliberalen Mitte sowie den Sozialdemokraten war die Europawahl 2019 zu einer „Schicksalswahl“ um die Zukunft der EU erklärt worden. Auch deshalb lag die Wahlbeteiligung EU-weit bei fast 51 Prozent, gegenüber 43 Prozent im Jahre 2014. Umgekehrt hatten die Rechten – Salvini aus Italien, Frau Le Pen aus Frankreich, Orbán aus Ungarn, Kaczyński aus Polen und andere – eine Neupositionierung der EU im Sinne eines „Europas der Vaterländer“ sowie eine stärkere Abschottung nach außen gefordert. Angesichts der Wirrnisse des Brexit haben jedoch die europäischen Rechten die Forderung nach einem „Exit“ aus der EU aus dem Programm genommen, auch die deutsche AfD. Der US-amerikanische Steve Bannon, der Wahlberater Donald Trumps war und sich als den Architekten von dessen Wahlsieg ansieht, reiste nahezu ständig durch Europa, um die hiesigen Rechten zu beraten, und erklärte vollmundig, es werde gelingen, eine rechte Sperrminorität im Europäischen Parlament zu erreichen und den Integrationisten „ein Stalingrad“ zu bereiten.
Aus „Stalingrad“ wurde nichts. Das verhindert schon der bürgerliche Block der Mitte. Gleichwohl zog Matteo Salvinis Lega mit 28 Prozent als stärkste italienische Gruppierung ins Europäische Parlament ein, ebenso Marine Le Pens Rassemblement National mit 23,3 Prozent (vor Macrons Koalition mit 22,4 Prozent). Fidesz in Ungarn erreichte 52,3 Prozent, PiS in Polen 45,4 Prozent. Die FPÖ in Österreich wurde mit 17,2 Prozent wieder drittstärkste Partei. Sie verlor trotz des Ibiza-Skandals um ihren Vorsitzenden Heinz-Christian Strache lediglich 2,5 Prozent. Die AfD steigerte ihren Anteil von 7,1 auf 11 Prozent, wobei sich die Zahl ihrer Wähler verdoppelte, von 2,1 auf 4,1 Millionen (der Unterschied in Bezug auf die Prozentzahl folgt aus der höheren Wahlbeteiligung, die bei 61,4 Prozent im Vergleich zu 48,1 Prozent 2014 lag). Allerdings hatte sie bei der Bundestagswahl 2017 5,9 Millionen Zweitstimmen erreicht; das heißt, auch sie konnte ihren Mobilisierungsgrad der Bundestagswahl nicht erreichen – woraus einige Wahlforscher, wahrscheinlich vorschnell, schließen, sie hätte ihren Zenit bereits überschritten. Summiert man alle rechten Parteien im Europäischen Parlament, die bisher in unterschiedlichen Fraktionen organisiert waren, so sind es insgesamt etwa 190 rechte Abgeordnete.
In Großbritannien wurde Nigel Farages neugegründete Brexit Party mit 30,7 Prozent der Wählerstimmen stärkste Partei; die weiter existierende „Unabhängigkeitspartei“ (UKIP) erhielt auch noch 3,2 Prozent, während die Labour Partei auf noch 13,7 Prozent kam, hinter den Liberaldemokraten, die gegen den Brexit sind, mit 19,8 Prozent, und die Tories auf nur noch 8,8 Prozent.
Wenn die deutschen Hegemonialpolitiker, die Großbritannien entgegen dem Brexit-Entscheid in der EU halten wollen, gehofft hatten, die erzwungene britische Teilnahme an der Wahl zum Europäischen Parlament als Ersatz-Volksabstimmung gegen den Brexit zu benutzen, so ist das gründlich danebengegangen. Dafür werden die britischen Abgeordneten, einmal gewählt, an allen Abstimmungen teilnehmen, auch wenn es um den Kommissionspräsidenten geht. Die zuweilen von deutschen Politikern geforderte „Zurückhaltung“ der britischen Europaabgeordneten ist rechtsstaatlich betrachtet grober Unfug.
Schlagwörter: Brexit, Erhard Crome, EU, Europäisches Parlament, Europawahl