von Stephan Wohanka
„Halbstarke nannten wir die zu unserer Zeit. Es ist das Privileg der Jugend, sich von den Alten abzusetzen“. So ein Herr jenseits der 75 auf meine Bemerkung hin, dass die Jugend gegenwärtig zu Recht gegen die Politik ob deren Tatenlosigkeit protestiere.
Halbstarke waren aggressiv auftretende Jugendliche, meist männlich und aus der Arbeiterklasse stammend. Wie der Soziologe Helmut Schelsky schrieb, wurde „in dieses aus publizistischen Gründen aufgeblasene Schlagwort […] von der Jugendkriminalität über die Jugendverwahrlosung, von Jugendstreichen und -flegeleien bis zu dem Konsumrowdytum gelegentlicher Alkoholexzesse, von den Jazzfans und Beboptänzern bis zu den Motorradrasereien und den Krawallen und Aufläufen so ziemlich alles hineingestopft […], was den Erwachsenen als ‚Notstand‘ oder wenigstens als unerfreulich, wenn nicht nur unverständlich an der Jugend wieder einmal auffiel“. Entscheidender scheint mir festzuhalten, dass – um es mit Marx zu sagen – „Menschen ihre eigene Geschichte (machen), aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“.
Was waren die „vorgefundenen Umstände“ der Halbstarken? Das Erhardsche „Wirtschaftswunder“. Ab Mitte der 1950er Jahre stieg die private Kaufkraft, während die Lebenshaltungskosten stagnierten; der Konsum wurde zum Rausch – Möbel, Autos, Elektrogeräte, Reisen. In seinem Buch „Wohlstand für alle“ (1957) postulierte Ludwig Erhard den „Willen zum Verbrauch“ als Motor der Produktion und so kam es. Der Volkswagen rollte vom Band und auf den Straßen; und im „Toast Hawaii“ gipfelte der „Ausdruck eines Lebensgefühls ganzer Generationen“ in einer Melange aus „Provinz und zugleich […] Extravaganz“. Die Journalistin Gudrun Rothaug empfand es so: „Auf wenigen Quadratzentimetern Weizenbrot“ wurden „die Sehnsüchte einer ganzen Epoche“ gebündelt – „die verschwenderische Kombination aus Schinken und Käse demonstrierte den neu gewonnenen Wohlstand, Ananas und Cocktailkirschen drückten die Sehnsucht nach der weiten Welt aus“. Der American Way of Life wurde auf lappigem Toastbrot in jeden Partykeller zelebriert. Der „Fresswelle“ folgte die „Reisewelle“; Mallorca wird zum „Germanengrill im Mittelmeer“ – so eine Fernsehreportage von 1965. Musste diese konsumgetriebene Piefigkeit nicht zwangsläufig zu einem Protest Jugendlicher führen? Und musste nicht jeder der halbstarken Rebellen angesichts der materiellen Erfolge und Aufbauleistungen des Wirtschaftswunders von den „Alten“ als ein Rebel Without a Cause – so der Titel des US-amerikanischen Kultfilms von 1955 mit James Dean, der für die Halbstarkenkultur zum Synonym wurde – gesehen werden?
Worauf trifft die heutige junge Generation? Ihrer nicht unbegründeten Meinung nach auf die Möglichkeit der irreversiblen Zerstörung der Erde. Das sei kein abstraktes Szenario, sondern das mit einiger Wahrscheinlichkeit eintretende Resultat aktueller (Nicht)Politik. Nicht alle Menschen hierzulande teilen diese Sicht; für sie spricht ihre wissenschaftliche Expertise: Rund 97 Prozent der Klimawissenschaftler teilen sie. Den guten Rat an die Schüler, für ihre Zukunft besser der Schulpflicht nachzukommen als zu schwätzen, kontert die Vorreiterin der Bewegung Greta Thunberg: „Why should I be studying for a future that soon may be no more, when no one is doing anything to save that future?“
Wenn die etablierte Politik in Gestalt der Kanzlerin schmeichelt „wir können unsere Klimaschutzziele nur dann erreichen, wenn wir auch Rückhalt in der Gesellschaft haben. Und deshalb begrüße ich es sehr, dass junge Menschen, Schülerinnen und Schüler demonstrieren und uns sozusagen mahnen, schnell etwas für den Klimaschutz zu tun. Ich glaube, dass das eine sehr gute Initiative ist“, dann können selbst 18-Jährige, die keine andere Person auf dem Kanzlerposten kennen als Angela Merkel, dies nur für „klimapolitische Realsatire“, so ihr Sprecher, halten.
Heikel wurde es für offizielle Politik und namentlich für die Union, nachdem der YouTuber Rezo den Clip „Zerstörung der CDU“ online stellte. Binnen kürzester Zeit wurde Rezos knapp 60 Minuten langes Kompilat von stakkatoartig vorgetragenen Fakten und Forschungsergebnissen namentlich zur Notwendigkeit des Klimaschutzes und vom Versagen der Politik, selbstgesteckte Ziele einzuhalten, zum Quotenhit. Die CDU-Spitze reagierte; ungelenk ist ein milder Euphemismus: Sie stammelte zwischen Beschimpfung, Zurückweisung der Fakten und schrägen biblischen Vergleichen; ein erstes Kommunikationsdesaster. Die Abschlusskundgebung zur Europawahl, die die EVP, deren Mitglied die Union ist, in München veranstaltete, „hätte so auch vor drei Monaten stattfinden können – als hätte es keinen Rezo gegeben und keine Wut der Klimaschüler“. Wie in einem „Paralleluniversum“ habe man das Programm „stumpf durchgezogen“, so die Journalistin Melanie Amann.
Zig Millionen „Rezo-Klicks“ weiter und nach der von Union und SPD vorhersehbar vergeigten Europawahl offenbart sich das ganze Dilemma. Norbert Röttgen, schon einmal stellvertretender CDU-Vorsitzender und beileibe kein Linker, kommt zu etwas sperrig formuliertem Schluss: „Die etablierten Parteien sind mit der Art, wie sie sich mit den Problemen beschäftigen, nicht auf der Höhe der Zeit. Weil das ein Breitenphänomen der etablierten Landschaft ist, haben wir inzwischen ein Systemproblem.“ Und: „Es ist ein dramatischer Befund, aber man muss ihn in Deutschland aussprechen: Das, was das politische System anbietet, ist unangemessen gegenüber der wirklichen Dimension und Gefährlichkeit der Herausforderungen.“ Haben die Schüler doch recht?
Die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer erklärte nach der Wahlschlappe, dass die Union die wichtigsten Wahlziele erreicht habe. Der Publizist Gabor Steingart fragte sich, „ob sie noch auf Augenhöhe mit der Realität kommuniziert“. Bei den Wählern unter 25 Jahren kam die Union auf zwölf, die SPD auf acht Prozent, Gewinner sind die BündnisGrünen, die 34 Prozent erzielten und erstmals bei einer bundesweiten Wahl auf 20 Prozent kamen. Steingart kam zum Schluss, dass diese Wahlergebnisse „zu einem regelrechten Stromabriss zwischen der CDU und dem Nachwuchs“ führten.
Unbeirrt rannte die CDU ins nächste kommunikative Chaos; Hintergrund: Rezo konnte etwa 70 YouTuber und „Influencer“ vor der Wahl dazu bewegen, desgleichen für Klimaschutz und die „richtige“ Partei zu werben. Haben nicht auch schon Prominente und namentlich Kleriker von der Kanzel zur Wahl der Union aufgerufen; wo ist der Unterschied? Kramp-Karrenbauer verglich jedoch diese Clips mit denkbaren Äußerungen von Zeitungsredaktionen (!) – wieder ein schräger Vergleich, allmählich wohl ihr Markenzeichen – , die vor einer Wahl dazu aufriefen, nicht CDU oder SPD zu wählen. Dies sei „klare Meinungsmache“. Dass die Partei-Chefin von politischen Rivalen scharf kritisiert wurde, klar: „AKK erwägt die Regulierung von Meinungsäußerungen vor Wahlen […] Das kann ich kaum glauben“, schrieb Christian Lindner (FDP), der Linke Niema Movasaat forderte gar deren Rücktritt. Selbst Parteifreunde wie Armin Laschet verwiesen auf die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit und Zigtausende Menschen protestieren unter dem Hashtag #Zensur gegen Kramp-Karrenbauers „Initiative“ …
Es ist zynisch, YouTuber wie Rezo – unabhängig von der Richtigkeit und (Un-)Fairness seines Urteils – oder die Schüler von „Fridays for Future“ gönnerhaft von oben herab zu behandeln. Hatten die „Alten“ damals einigen Grund, den Halbstarken kritisch gegenüberzustehen, so stehen die heutigen Vertreter Ersterer, die etablierte Politik, in der Schuld der Jugend! Dies durch die Verkennung des dramatischen Wandels, den unsere Gesellschaft durchgemacht hat; namentlich die Union hat das noch nicht begriffen. Die Themen Klimaschutz und Digitalisierung stehen dafür. Die Jugend sieht sich nicht mehr durch diese Politik vertreten. Sie rebelliert With a Cause!
Schlagwörter: CDU, Fridays for Future, Klimaschutz, Rezo, Stephan Wohanka, Wirtschaftswunder