22. Jahrgang | Nummer 11 | 27. Mai 2019

Vom Herzensclub in den Kosovo

von Thomas Behlert

Nach Peter Ducke und Joachim Streich versucht sich nun der dritte DDR-Fußballspieler an einer Autobiografie. Gemeinsam mit dem Carl-Zeiss-Jena-Anhänger und Fußballexperten Frank Willmann schildert Lutz Lindemann sein Leben. Bereits der Titel des – sogar mit einem Lesebändchen ausgestatteten – Buches, macht klar, dass sich Lindemann nie in seiner 50 Jahre andauernden Karriere unterbuttern ließ, sondern diese immer als „Optimist aus Leidenschaft“ durchschritt. Ok, einige Niederlagen, Aussetzer und Rückschläge waren dabei, doch Lutz kämpfte sich immer wieder nach vorn, steckte weg und steht heute als Fachmann vom Dienst beim Heimatsender MDR vor der Kamera, um vorwiegend Spiele der Dritten Liga kompetent, nie langweilig, immer gerne frech zu kommentieren. Da werden schwache Leistungen, Fehlbesetzungen und Abspielfehler erkannt und genannt und nicht mit Daumen hoch oder mit den üblichen Versatzstücken klein geredet.
Wer sich mit Fußball beschäftigt und auch immer hoffte, dass der FC Carl Zeiss Jena nicht zu weit in den Ligen durchgereicht wird, wusste trotzdem nicht viel von Lutz Lindemanns Aktivitäten. Was ist dieser Mann durch die Welt gereist, wo hat der nicht überall den Fußball vorangebracht, um dann durch Intrigen und schmutzigen Fußballalltag ausgebootet zu werden. Er war Spieler, Trainer und Funktionär, zog 21-mal das Trikot der DDR-Nationalmannschaft über, schoss 42 Tore in insgesamt 205 Spielen. Der Höhepunkt in Lindemanns Karriere ist natürlich das Erreichen des Endspiels im Europapokal der Pokalsieger mit dem Carl Zeiss Jena, das dann leider gegen Dynamo Tbilissi in Düsseldorf vor nur wenigen tausend Westdeutschen verloren wurde. Lindemann war ein typischer DDR-Fußballer, der eine Ostbiografie hat und sich nach der Wende neu orientieren musste.
In Halberstadt begann Lutz Lindemann mit dem Fußballspielen. Auf Straßen und Plätzen seiner Wohngegend kickte er mit vielen dort wohnenden Kindern fast ununterbrochen. Sogar im Schwimmbad konnte er nicht vom runden Leder lassen. Bereits 1958 trat er der Spielgemeinschaft von Aufbau/Empor bei und schaffte es wenig später in die DDR-Jugendauswahl. Wenige Jahre danach wurde er zum 1. FC Magdeburg delegiert, wo er allerdings nur als Ergänzungsspieler eingesetzt wurde. Da ihm das nicht reichte, organisierte er eigenmächtig einen Wechsel zu Stahl Eisenhüttenstadt, der dann nicht genehmigt wurde. Die Bestrafung folgte auf dem Fuße: Lindemann bekam von Fußballverband und SED-Parteileitung eine Sperre und die „Delegierung“ zum Wachregiment „Feliks Dzierżyński“ aufgebrummt, da Eigenmächtigkeiten im DDR-Sport nicht sein durften. Eine anschließende schwere Meniskusverletzung veranlasste Lutz Lindemann, den Leistungsfußball erst einmal aufzugeben.
Doch der aufmüpfige und provokante Mittelfeldspieler hatte Glück, denn 1971 wollte ihn plötzlich der Rot Weiß Erfurt, für den er dann auch fünf Jahre lang in der Oberliga spielte. Sehr gute Leistungen brachten ihm schließlich einen Vertrag mit einer der stärksten DDR-Mannschaften ein, dem FC Carl Zeiss Jena. Hier hatte er seine besten Jahre, denn er debütierte mit 27 Jahren in der DDR-Nationalmannschaft, spielte im Europapokal und auch um die Meisterschaft mit. Noch hatte sich Minister Mielke nämlich nicht dazu entschlossen, seinem Lieblings- und Stasi-Verein BFC Dynamo Berlin zehn Jahre lang mit allen Mitteln zum Titel zu verhelfen.
In Jena kam LL mit dem späteren DDR-Nationaltrainer Georg Buschner zusammen, der ihn später als „schlampigen Charakter“ bezeichnete, und wurde außerdem von Hans Meyer trainiert. Die Thüringer Mannschaft hatte Wolfgang Biermann, den Kombinatsdirektor der Zeiss-Werke, an der Spitze, der frühzeitig den Machtfaktor Fußball erkannte und mit diesem im Kapitalismus werben konnte. Biermann war ein sozialistischer Vollprofi, SED-Funktionär und absoluter Bestimmer, ja Diktator. Unter vorgehaltener Hand sagten seine Untergebenen: Biermann ist kein Kommunist, auch kein Kapitalist, sondern ein Sadist. Von ihm gab es aber auch jede Menge Prämien und Zuwendungen.
Autor Willmann lässt nichts aus: Er beschreibt genau alle Hintergründe und Widersprüche, die zu Lindemanns Laufbahn gehören, vor allem die sportlichen Bedingungen, die von Leistungsdruck geprägt waren und für Feinfühligkeit und besondere Charaktere nichts übrig hatten. Es wurde gebrüllt, Pressing bis zum Abkotzen zelebriert und immer wieder politischer Druck ausgeübt. Lindemann war auch dabei, als 1981 kurz vor dem Abflug nach Südamerika die Fußballspieler Gerd Weber, Matthias Müller und Peter Kotte von der Staatssicherheit verhaftet wurden, weil sie angeblich ihre Republikflicht geplant hatten.
Bis zur Wende versuchte sich Lutz Lindemann dann als eine Art Manager bei Carl Zeiss Jena, um danach mit wenig Erfolg als Versicherungsmakler tätig zu sein. Aber der Fußball ließ ihn nicht los, denn man holte ihn nach Aue, wo er die Mannschaft aus dem Erzgebirge mit aufbaute, Sponsoren suchte, sich um den Stadionneubau und um Spieler kümmerte, sogar mit seiner Frau Monika ein Haus baute, um dann doch wieder zu seinem Herzensclub Jena zurück zu kehren. Als Präsident erlebte er hautnah den Einzug von Geld, Macht, persönlichen Intrigen und Gier in die mittlerweile verrückt gewordenen Welt des Fußballs. Das war nichts für ihn, er scheiterte.
Nach einem kurzen Abenteuer mit einer Modeleisenbahnfabrik in der maroden Ukraine und einem noch kürzeren Zwischenstopp beim chaotischen Klub Sportfreunde Siegen, landete Lindemann schließlich im Kosovo, wo er als Sportdirektor eine Fußballmannschaft für Europa fit machen sollte. Doch dort waren all die Dinge alltäglich, die bei Lindemann nicht zum Fußball gehörten: Bestechungen, Familienbande, Alleinherrschaft eines Präsidenten, überhebliche Fußballspieler und Intrigen. Während einer Besprechung sagte ein Kicker sogar „Halt die Fresse“ zu ihm und brauchte vom Verband aus trotzdem nicht mit fühlbarer Strafe rechnen.
Insgesamt erlebte Lindemann den Fußball von Kopf bis Fuß in einem sozialistischen System, um anschließend ganz tief in den real existierenden Kapitalismus des Sports einzutauchen. Richtig ist es, wenn er meint: „Meine Lebensgeschichte ist manchmal nichts für schwache Nerven.“
Die von Lindemann erzählte und von Willmann niedergeschriebene Lebensgeschichte ist an manchen Stellen ziemlich hektisch. So weiß der Leser zum Schluss gar nicht mehr, wo LL nun zu welchem Zeitpunkt wohnte, was seine Frau in der ganzen Zeit anstellte, außer „Mach es“ zu sagen, und was überhaupt mit den anderen Lindemann- Familienmitgliedern war. Trotzdem ist das Buch interessant – bis hin zum Bericht über einen Besuch des „Clubs der Nationalmannschaft“, der die Abgehobenheit des DFB verdeutlicht und ebenso, dass die meisten Ex-Nationalspieler doch nur wie VIPs der Holzklasse behandelt werden.
Nun fehlt eigentlich nur noch ein Buch von Jürgen Sparwasser, der bekanntlich das einzige Tor der DDR gegen die BRD schoss, wobei der auf das Thema gar nicht mehr angesprochen werden möchte. Wenn es aber Geld bringt …

Lutz Lindemann/Frank Willmann, Optimist aus Leidenschaft, Aufbau Verlag, Berlin 2019, 280 Seiten, 20,00 Euro.