22. Jahrgang | Nummer 11 | 27. Mai 2019

Sprüche und Lebenslügen

von Erhard Crome

Den ehemaligen SPD-Vorsitzenden und ehemaligen Außenminister Sigmar Gabriel bewegte offenbar sein politisches Schicksal, das eines Gescheiterten. Zum 70. Jahrestag der NATO fuhr sein Nachfolger, den er erst aus der Provinz geholt hatte, zum Gruppenbild nach Washington. Da wollte er wenigstens ein Zeichen setzen und schrieb einen Text für den Berliner Tagesspiegel. Als er noch darüber brütete, fiel sein Blick wohl auf eine Flasche „Klosterfrau Melissengeist“ auf dem Nachttisch. Das ist ein Kräuterextrakt. Laut Beschreibung wirkt er „schonend und sanft bei vegetativen Beschwerden wie innere Unruhe, Nervosität, Wetterfühligkeit, Schlafstörungen oder Magen-Darmbeschwerden“. Zentraler Slogan seit 1925: „Nie war er so wertvoll wie heute“. Und als der Sigmar noch jugendlich war, lief der allabendlich im Werbefernsehen.
So begann Gabriel seinen Aufsatz mit der sinnigen Überschrift: „Nie war sie so wertvoll wie heute“. Er meinte die NATO und fügte hinzu, die sei „mehr denn je Garant für ein starkes Europa, in dem Deutschlands Wankelmut zum wachsenden Problem wird“. Europa und Deutschland wanken oder schwanken im Meer der internationalen Politik, das meinte er gleich zu Beginn hervorheben zu sollen.
Dann präsentierte er den wichtigsten Gemeinplatz der noch aus Bonn stammenden Staatsideologie: „Die NATO wurde vor 70 Jahren gegründet, um den großen Krieg zwischen West und Ost zu verhindern. Und das hat sie geschafft. Sie hat die Bedrohung durch den Blockfeind erfolgreich abgewehrt, ohne jemals in einen heißen Krieg getreten zu sein.“ Letzteres stimmt insofern, als dass der Krieg zwischen den beiden Blöcken ausgefallen ist. Ob das aber das Verdienst der NATO oder ihres östlichen Gegenstücks, der Warschauer Vertragsorganisation, oder beider war – oder beider nicht –, ist nicht bewiesen. Ein alles vernichtender Atomkrieg hat nicht stattgefunden, wegen oder trotz des atomaren Patts. Das wissen wir nicht. Vielleicht sind wir auch nur durch Zufall davongekommen. Deshalb wäre es zum Ende des Kalten Krieges vernünftig gewesen, nach dem Verschwinden des Warschauer Vertrages auch die NATO aufzulösen – wenn kein Feind mehr da ist, braucht es kein Militärbündnis. Da die US-Regierungen die NATO jedoch als Werkzeugkasten für ihre interventionistische Geopolitik behalten wollten und die deutsche sowie andere europäische Regierungen dem brav folgten, existiert sie immer noch, ausgeweiteter und vollmundiger denn je.
Der Autor hat aber offenbar selbst gemerkt, dass sein schöner Spruch volle Strahlkraft nicht entwickelt und fügte daher hinzu: „Die oftmals kritisierte Ausnahme, der Kriegseinsatz von NATO-Verbänden im ehemaligen Jugoslawien während des Kosovokrieges, beendete Völkermord und ethnische Säuberungen, weil die NATO-Mitglieder – darunter auch Deutschland – dem Morden nicht länger tatenlos zusehen wollten.“ Hier sind wir allerdings bei einer handfesten Lebenslüge.
In dem 2018 erschienenen Buch Gabriels (unter Mitarbeit von Richard Kiessler – der als Journalist unter anderem für den Spiegel und den Deutschlandfunk gearbeitet hat) zur Weltpolitik wird noch weiter ausgeholt: Nach der vollständigen Niederlage im Zweiten Weltkrieg hätten die Deutschen zwei Schlussfolgerungen gezogen: „Nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg!“ und „Nie wieder allein!“ Beide sind essentiell und klingen gut. In erster Linie sind diese Schlussfolgerungen eine ideologische Abgrenzung der heutigen deutschen Demokratie gegenüber den dem Kriege unmittelbar dienenden Staats-Ideologien vor 1918 und vor 1945, zugleich aber eine Reverenz an die zivile Grundstimmung in der deutschen Bevölkerung.
Beide Schlussfolgerungen sind jedoch gerade im Hinblick auf den Jugoslawienkrieg genauer zu betrachten.
Als die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung die Beteiligung Deutschlands an diesem Krieg 1999 in die Tat umsetzte, benutzte sie in der öffentlichen Auseinandersetzung um diese erste Kriegsbeteiligung Deutschlands seit 1945 sehr starke, emotionale Argumentationsfiguren: „Auschwitz“ wurde benutzt, um eine Verpflichtung zur Kriegsbeteiligung herzuleiten. Und, wie sich am Ende herausstellte, Falschinformationen über angebliche KZ in Jugoslawien und einen sogenannten Hufeisenplan Belgrads zur kompletten Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo, um diese Entscheidung der Öffentlichkeit plausibel zu machen. Gabriel wiederholt jetzt lediglich die Rabulistik und die Lügen seines Parteifreundes Rudolf Scharping, damals Verteidigungsminister, und des damaligen Außenministers Joseph Fischer von den Grünen. (Der „Hufeisenplan“ war, wie später aktenkundig wurde, auf der Hardthöhe produziert worden.)
„Nie wieder allein“ kann im Übrigen auch heißen, nie wieder auf sich allein gestellt Weltpolitik betreiben zu wollen, sondern im Bündnis und gestützt auf andere, mit den USA in der NATO oder im Rahmen einer sich zunehmend zur Militärmacht umbauenden Europäischen Union. In diesem Sinne könnte es auch heißen, „nie wieder allein“ Politik gegen Russland zu machen oder gar Kriegsaufstellung vorzunehmen. Hier stimmt Gabriel in den Chor derer ein, die dafür mehr deutsches Militär wollen.
In seinem Buch betont Gabriel zwar: „Wir dürfen nicht glauben, Europa würde am besseren und guten deutschen Wesen genesen“, und verweist auf die Beispiele Energiewende, Auseinandersetzungen in Deutschland um die Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA sowie die Flüchtlingspolitik von 2015 und folgert, „wir“ seien „überzeugt vom richtigen Weg und vor allem von der Werthaltigkeit unseres Handelns. Wir meinen, wir verfolgen keine deutschen Interessen, sondern im Interesse Europas zu handeln.“ „Wir“ – er meint hier stets die politische Klasse dieses Landes „glaubten, wir handelten nicht, weil wir deutsche Interessen verfolgten, sondern in der Überzeugung, etwas für die Menschheit an sich zu tun. Für das Gute, Humane, das Richtige. Und wir meinten, im Interesse Europas zu handeln – allerdings, ohne die Europäer nach ihrer Meinung zu fragen. Deutschland handelte dabei nicht wie eine imperiale Macht, die sich über internationale Normen hinwegsetzt. Wir handelten als Staat, der überzeugt ist, das Richtige zu tun.“
An dieser Stelle bedarf Gabriel einer Korrektur: Deutschland handelte als imperiale Macht. Das Kriterium dafür ist nämlich nicht notwendigerweise, sich über internationale Normen hinwegzusetzen. Die wirklich hegemoniale oder imperiale Macht setzt vielmehr die Normen.
Vor dem Hintergrund der „millionenfachen Zuwanderung“ meint Gabriel zugleich, Deutschland – „vor etwas mehr als einer Generation noch ein furchterregender Ort, der im Rest der Welt Angst und Schrecken verbreitete,“ – sei heute „zu einem Sehnsuchtsort geworden […]. Ein Ort, wie es die Vereinigten Staaten von Amerika an der Schwelle zum 19. und später zum 20. Jahrhundert waren“. Den Widerspruch zu seiner eigenen Kritik an moralisierender Außenpolitik hatten offenbar weder die Schreiber noch die Lektoren seines Buches bemerkt. Wenn „wir“ schon in Sachen Wirtschaftskraft und Militär hinter den USA zurückliegen, wollen wir wenigstens im Wettbewerb um größtmögliche Beliebtheit ganz vorn sein. Hier hätten „wir“, so Gabriel, inzwischen die USA abgelöst! Offensichtlich jedoch nicht überall, wie die gerade erzielten null Publikumspunkte beim Eurovision Song Contest weltöffentlich vorgeführt haben.
Ebenfalls bereits in seinem Buch hatte Gabriel einen Vorwurf erhoben, der ihm nun im Tagesspiegel Herzenssache und tragende Botschaft zugleich ist: „Die Zentralmacht Europas ist orientierungslos: Wirtschafts-, Sicherheits- und Migrationskrisen drohen sich zu einem ‚perfekten Sturm‘ zu bündeln.“ Gemeint ist offenbar, dass dies so sei, seit er nicht mehr mit am Steuer der deutschen Außenpolitik steht, sondern der Leichtmatrose, der ihm bei der Bildung der jetzigen GroKo vorgezogen wurde. Vielleicht aber hatte der Sigmar beim Schreiben dieses Mal die Klosterfraupulle nicht einfach nur vor Augen, sondern auch einen kräftigen Hieb daraus genommen?! Da ist Vorsicht geboten: Das Zeug enthält immerhin 79 Prozent Alkohol …

Sigmar Gabriel: Zeitenwende in der Weltpolitik. Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten, Herder Verlag, Freiburg/Basel/Wien 2018.