von Ingeborg Ruthe
Da spielt zur Vernissage sogar das Wetter mit: Die Stadt im Regen. Das silbrige Grau über Berlins Dächern gleicht frappierend dem über den Giebeln von Paris, wie es sich auf dem Gemälde des einst gerade neuerbauten, bourgeoisen Boulevard Haussmann zeigt. Das monumentale Bild kam soeben aus Chicago nach Berlin. Gemalt hat es 1877 der Impressionist Gustave Caillebotte (1848–1894), jüngster, dafür umso ausgefallenerer Protagonist des Stils, mit dem um 1870 das Licht der freien Natur auf die Leinwände kam.
„Straße in Paris – Regenwetter“* ist die Ikone des Art Instituts Chicago. Nun hängt es in der Alten Nationalgalerie. Deren Chef, Ralph Gleis, ist es gelungen, das Gemälde im Austausch eines Schatzes seines Hauses auszuleihen: Manets „Im Wintergarten“ gibt gerade ein Gastspiel in Chicago – das sind exklusive Kunstereignisse hier wie dort.
Die Alte Nationalgalerie mit ihren berühmten Impressionismus-Schätzen besitzt von Caillebotte kein einziges Werk. Sein wohl modernstes, zukunftsweisendstes durfte seit der Restaurierung 2013 nicht reisen. Aber für den Manet im Gegenzug dann doch.
Und so stehen wir ziemlich baff vor dem Paris-Motiv. Welche Modernität! Alles scheint in Bewegung zu sein. Nass schimmert das Pflaster, und der vom andrängenden Licht bekämpfte Dunst über den Dächern verstärkt die unkonventionelle Perspektive. Die Figuren sind keine Staffagen, wie auf vielen impressionistischen Stadt- und Landschaftsmotiven, sondern tragen individuelle Gesichter und Haltungen spazieren. Stadtgestalten am Bildrand wirken wie beschnitten. Und alles ist trotz des Dunstes genau dargestellt, die junge Frau unterm Schirm am Arm des Gatten – ein Brillant baumelt am Ohr – scheint guter Hoffnung zu sein. Erstmals war diese Szene 1877 auf der dritten Pariser Impressionisten-Schau zu sehen. Caillebotte war da gerade mal 29. Die konservativen Anhänger des Salonstils schäumten und ätzten. Beim Volk indes wurden Bilder wie dieses rasch populär.
Was wäre in Kürze von dem neuen Stil zu sagen? Der hehre akademische Historizismus war passé. Vor impressiver Malerei muss man einige Schritte zurücktreten. Der Akt des Sehens wird zur Bedingung. Und es entscheidet der Eindruck. In flüchtigen Momenten lösen Dinge und Gestalten sich auf im Licht. Schatten werden farbig, feine Farbtupfer oder Striche geben den „Eindruck“ der sich bewegenden Welt wieder. Und: Die Impressionisten bevorzugten schlichte Rahmungen, forderten die nur zweireihige, luftige Hängung statt der erschlagenden Dichte in traditionellen Ausstellungen.
Caillebottes Stil unterscheidet sich von dem der von ihm bewunderten älteren Impressionisten. Es ist, als habe er fotografisch gemalt, in präzise konstruierten urbanen Räumen und sehr szenisch. Die Farben sind brillant. Er und seine Malerfreunde nutzten die damals gerade erfundenen, bereits fabrikmäßig abgepackten Farben aus den prosperierenden Farbhandlungen. Jene Läden schossen in den Künstlervierteln im Norden von Paris wie Pilze aus der Erde. Die Maler verließen mit ihrem Arsenal an Tuben, mit Staffelei, Palette und den praktischen Mal-Mappen die Akademiesäle und Ateliers. Ob flirrendes Sonnenlicht, Spiegelungen auf dem Wasser oder das sonntägliche Treiben auf den Boulevards – jedes Motiv verlangte sinnliche Wahrnehmung, lebensnah und frei.
Einen eigenen Caillebotte kann das Berliner Sammlungshaus wie gesagt nicht aufbieten, anders als etwa das Kölner Wallraf-Richartz-Museum mit dem grandiosen „Trocknende Wäsche am Ufer der Seine“, wo Forscher in den Malschichten sogar Blätter und Blütenknospen von Pappeln fanden.
Also stellt die Schau die spektakuläre Leihgabe aus Chicago in den Mittelpunkt, dazu die exzellenten Skizzen und die aufschlussreichen, fast konstruktiven Vorzeichnungen des Motivs – in den Dialog mit jenen Impressionisten, die der Nationalgalerie gehören, angeschafft vor 1900 vom Berliner Nationalgaleristen Hugo von Tschudi: Manet, Monet, Renoir, Degas, Pissarro, Cézanne, Bonnard.
Hatte der umtriebige Tschudi bei seinen Pariser Ankäufen Caillebottes sehr besondere Gemälde etwa übersehen? Wohl kaum. Aber die Kunstgeschichte gibt Antwort. Caillebotte galt über lange Zeit vor allem als Sammler und Mäzen. Von Hause aus Millionär, hatte er die eigene Kunst nie in den Vordergrund gespielt, seine Gemälde hatte er lieber privat verschenkt, sodass sie in kaum einer öffentlichen Sammlung hingen. Vielmehr hat er neidlos-leidenschaftlich die Bilder seiner von ihm bewunderten Freunde angekauft, dem bedürftigen Monet sogar die Ateliermiete gezahlt. Zudem organisierte und finanzierte er alle Impressionisten-Ausstellungen.
Per Testament vermachte der früh Verstorbene seine Impressionisten-Sammlung dem französischen Staat. Dabei wollte Frankreich 1894 das mehr als 70 Gemälde umfassende Vermächtnis gar nicht so recht annehmen. Die Akademisten hatten noch das Sagen, hassten den Stil dieses „Neuen Sehens“. Man einigte sich mit dem als Testamentsvollstrecker bestimmten Renoir auf immerhin 38 Bilder, die, ergänzt um zwei Tableaus von Caillebotte, den Impressionisten überhaupt erst den Weg ins Museum ebneten. Heute bewahrt das Pariser Musée d’Orsay diese Werke. Weltkulturerbe.
Zu verdanken ist das Caillebotte, diesem Impressionisten der eigenen Art. Der eigenwillige Stil des passionierten Seglers, der die Aggregatzustände des Wassers als Naturereignis zu malen verstand – spontan und zugleich strategisch – ist noch längst nicht so bekannt und durchweg erforscht wie der seiner Freunde. Und damit eine Entdeckung wert.
* – Gustave Caillebotte: Straße in Paris, Regenwetter [Rue de Paris, temps de pluie], 1877; Öl auf Leinwand, 212,2 × 276,2 cm; Art Institute of Chicago; © bpk / The Art Institute of Chicago / Art Resource, NY.
Alte Nationalgalerie, Berlin, Bodestraße 1–3; bis 15. September, Di, Mi, Fr, Sa, So 10–18 Uhr / Do 10–20 Uhr / Montag geschlossen. Katalog (Hirmer) 22,00 Euro.
Berliner Zeitung, 17.05.2019. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.
Schlagwörter: Alte Nationalgalerie, Gustave Caillebotte, Ingeborg Ruthe