22. Jahrgang | Nummer 11 | 27. Mai 2019

Kevin Kühnert sei Dank

von Lars Niemann

Selten hat ein Interview in letzter Zeit für so viel Furore gesorgt, wie das von Kevin Kühnert für DIE ZEIT, in dem er sich zur möglicherweise erforderlichen und sinnvollen Vergesellschaftung großer Industrieunternehmen und von Wohneigentum geäußert hat. Das zweite steht sicher im Zusammenhang mit der aktuellen Wohnungsknappheit und dem angestrebten Berliner Volksbegehren zur Enteignung großer Wohnungsgesellschaften und soll hier nicht weiter betrachtet werden. Das erste Thema öffentlich aufgegriffen zu haben, ist sensationell und schon dafür gebührt dem Juso-Vorsitzenden Dank. Immerhin schien diese Idee seit dem Kollaps des Real-Sozialismus erledigt. Nun ist sie wieder da oder kann wieder ausgesprochen werden, worüber ich eine gewisse Freude nicht verhehlen will. Aus Kühnerts Überlegungen und vor allem den öffentlichen Reaktionen darauf lassen sich ganz verschiedene Schlüsse ziehen, die zugegebenermaßen alle reichlich spekulativ sind, aber durchaus Stoff zum Weiterdenken bieten, und das ist mehr, als von vielen politischen Ideen gesagt werden kann.
Zum einen halte ich es für bemerkenswert, dass diese Vorschläge mit einer Renaissance sozialistischer Ideen in den USA und Großbritannien einhergehen. Sofern ich den klassischen Marxismus kenne, war es ja eigentlich die Grundannahme, dass die Überwindung des Kapitalismus von den gesellschaftlich und technologisch am weitesten fortgeschrittenen Ländern ausgehen müsste, sicherlich nicht von halbfeudalen Reichen wie Russland oder China in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, und auch nicht von Kuba oder von nationalen Befreiungsbewegungen in den kolonial unterdrückten Ländern. Da nun diese „fortgeschrittenen Gesellschaften“ bislang wenig Neigung haben erkennen lassen, von sich aus irgendeine Alternative zum Kapitalismus ausprobieren zu wollen, könnte man vermuten, dass die Anhänger der sozialistischen oder kommunistischen Ideologie die Zeitschiene seit Ausarbeitung der Theorie falsch eingeschätzt haben und dass überhaupt erst jetzt der Kapitalismus ein Entwicklungsstadium erreicht hat, in dem seine Überwindung tatsächlich dringlich und vielleicht auch realistisch sein könnte.
Dies hängt vielleicht auch mit der zahlenmäßigen Ausdünnung derjenigen Klasse zusammen, von der einmal theoretisch angenommen wurde, dass sie die führende Rolle bei der Errichtung einer neuen Gesellschaft spielen sollte. Wie von der Geschichte ziemlich eindeutig bewiesen, hat sie es nicht getan. Wenn der Betriebsratsvorsitzende von BMW nunmehr erklärt hat, dass die SPD nach Kühnerts Äußerungen für Arbeiter nicht mehr wählbar sei, ist das nur folgerichtig und bestätigt den Eindruck, dass auch in der Vergangenheit die Mehrheit der Fabrikarbeiter nicht an einer Änderung der Besitzverhältnisse interessiert war, sondern an „guter Arbeit“ und an guten Löhnen, für die man sich auch was kaufen konnte. Beides war im realen Sozialismus nicht gewährleistet, eher schon im sozialpartnerschaftlichen westeuropäischen Kapitalismus des „Goldenen Zeitalters“ von der Nachkriegszeit bis zur Durchsetzung des Neoliberalismus in den 1980er und 1990er Jahren.
Den eher wenigen Arbeitern, die sich für sozialistische Ideen engagiert haben, ging es sicher auch um sozialen Aufstieg, der ihnen zumindest in der DDR ermöglicht wurde, so dass sie das Proletariat endlich verlassen konnten.
Aber das ist schon ein psychologischer Aspekt, wie auch der folgende: Man sollte akzeptieren, dass die meisten Menschen es vorziehen, wenn ihnen klar gesagt wird, was sie zu tun haben, vorausgesetzt, dass sie dabei gut behandelt werden. Die Wenigen, die tatsächlich nach oben wollen und über die entsprechenden Fähigkeiten und Eigenschaften verfügen, finden im Kapitalismus ganz prächtige individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Warum sollten sie danach streben, „kollektive Eigentümer“ zu werden? Nein, wenn man auf große gesellschaftliche Gruppen setzt, die (vielleicht) den Kapitalismus überwinden könnten, dann sind es eher die gut gebildeten Prekarier, die gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt in „bullshit jobs“ (David Graeber) zu verdienen, und das nicht mehr hinnehmen wollen.
Zum anderen sind Kühnerts Ideen für die Geschichtsbetrachtung hilfreich. Sie bringen die Diskussion etwa zur Bewertung der DDR endlich zum zentralen Punkt, der aber selten benannt wird: den im Vergleich zur Bundesrepublik unterschiedlichen Eigentumsverhältnissen. Diese zu ändern, ist ja das grundsätzliche Ziel und Versprechen des Kommunismus. Wenn man diesen Pfad konsequent weiterverfolgt, kann man zu der Auffassung gelangen, dass eine Vergesellschaftung von Produktionsmitteln, weil nur von einer Minderheit für notwendig und sinnvoll gehalten, gar nicht demokratisch umgesetzt werden konnte. In der Praxis wegen geringerer Arbeitsproduktivität und mangelnder Versorgung anscheinend wenig tauglich, musste sie dann mit gewaltsamer Abschottung abgesichert werden. Denn eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung war (und ist, wie die Reaktionen auf Kühnert klarmachen) dagegen. Und das soll niemand mit Propaganda erklären, sondern die Menschen urteilen nach ihrem besten (kurz- bis mittelfristigen) Interesse – man will ja keinen Mangel, wenn man Überfluss gewohnt ist oder erwarten kann.
Es klingt zwar zynisch, aber bei konsequenter Betrachtung sind somit auch Hunderte von Toten an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer Kollateralschäden eines ökonomischen Experiments, ebenso wie die Millionen Toten der Hungersnot in der Ukraine in den 1930er Jahren Kollateralschäden der Kollektivierung der Landwirtschaft waren. Das zweite Beispiel zeigt allerdings, dass Kollektivierung auch anders gemacht werden kann: In der DDR ist niemand verhungert, nachdem die LPG eingerichtet worden waren.
All dieses scheint gegen jegliche Ideen von Vergesellschaftung zu sprechen, aber trotzdem könnten sie notwendig, ergo richtig sein. Denn wie sonst könnte eine Abkehr von der ökologisch katastrophalen Wachstumslogik durchgesetzt werden? Die kapitalistische Wirtschaftsweise ist unvereinbar mit den Erfordernissen der Gegenwart, die da heißen: weniger zu arbeiten und gleichzeitig Arbeit umzuverteilen, vor allem hin zur Betreuung von Alten, Kranken und Behinderten, weniger zu konsumieren und weniger natürliche Ressourcen zu verbrauchen, weniger wegzuwerfen und schließlich einzusehen, dass die steigende Lebenserwartung ein Grund sein sollte, weniger statt mehr Kinder in die Welt zu setzen.
Nun habe ich nicht den Eindruck, dass meine Interpretation Kühnerts Intention trifft, aber wir sollten begreifen, dass wir uns als Menschheit in einer neuen Situation befinden. Geschichtliche Erfahrungen müssen beachtet werden, können aber nur bedingt heutige Entscheidungen bestimmen.
Es bleibt natürlich das Dilemma der mangelnden Akzeptanz. Ein möglicher Ausweg könnte darin bestehen, statt Enteignung eine starke gesellschaftliche Kontrolle der Produktion, Verteilung und Konsumption mit echten Sanktionen für Verletzungen der von der Politik zu setzenden hohen Standards im Umgang mit Mensch, Tier und Umwelt zu verlangen. Hierfür sollte es Mehrheiten geben.