von Jürgen Leibiger
Wird der Umfang des Welthandels zum globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) ins Verhältnis gesetzt – die Kennziffer wird als Außenhandelsintensität bezeichnet – lassen sich historisch vier Verlaufsphasen ausmachen. Die erste reicht von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Die Intensität der außenwirtschaftlichen Beziehungen nahm stetig zu, und das Kapital einer reichlichen Handvoll führender kapitalistischer Länder eroberte die Weltwirtschaft. Diese rasche Expansion war mit der Zunahme von Widersprüchen und Spannungen verbunden, die sich im Ersten Weltkrieg entluden. Damit begann eine zweite Phase; sie endete in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise 1929/33 warfen die Außenwirtschaftsintensität weit zurück; die Kennziffer sank auf das Niveau des späten 19. Jahrhunderts.
In den darauf folgenden fünf, sechs Jahrzehnten – der dritten Phase – nahm die Kurve einen steil ansteigenden Verlauf. Der Welthandel wuchs wieder viel rascher als die Weltproduktion. Die Intensität der wirtschaftlichen Verflechtung nahm stark zu; internationale und transnationale Konzerne warfen ihr Netz über die Welt; Produktions- und Finanzbeziehungen wurden global integriert. Vor allem in den 1980er und 1990er Jahren beschleunigte sich diese Entwicklung noch einmal und erhielt nun einen neuen Namen: Globalisierung.
Seit der Krise 2007/2009, also nun schon seit über zehn Jahren, weist die Kurve erneut einen veränderten Verlauf auf. Sie bewegt sich seitwärts; in einigen Jahren stieg sie, in anderen Jahren fiel sie. Auch für 2019 prognostizierte die Welthandelsorganisation (WTO) im April diesen Jahres ein verlangsamtes Welthandelswachstum, das mit dem globalen BIP gerade so Schritt hält; die Außenhandelsintensität steigt nicht weiter. Eine neue Phase weltwirtschaftlicher Verflechtung hat begonnen. Die Veränderung im Muster der Globalisierung kann mittels dieser Kennziffer jedoch nicht erschöpfend charakterisiert werden, zumal ihre jüngste Bewegung in hohem Maße durch die sinkende Außenhandelsintensität Chinas, Indiens und einiger weniger anderer Schwellenländer bestimmt wird.
China ist heute weniger export- und importabhängig als noch vor Jahren, dafür gewinnen die Direktinvestitionen im Ausland an Bedeutung, was unter anderem an der Seidenstraßen-Initiative deutlich wird. Außerdem entwickelt es stärker seine Binnennachfrage, und inzwischen produzieren viele internationale Konzerne im Land, müssen ihre Produkte also nicht mehr nach China exportieren, was die Außenhandelsintensität bremst.
Das wichtigste Merkmal der neuen Phase der Globalisierung ist die beginnende Erosion der Hegemonie der westlichen Industrieländer und deren hektische, teils aggressive, mitunter sogar irrationale Reaktion darauf. Noch wird die Weltwirtschaft von den USA mit ihrem Dollar, ihrer Innovationsstärke, ihrer Marktmacht und ihren transnationalen Konzernen dominiert. Aber seit Beginn dieses Jahrhunderts hat sich der Anteil allein Chinas und Indiens am Welt-BIP in Kaufkraftparitäten auf fast 25 Prozent verdoppelt und der Anteil der OECD-Länder auf fast ein Drittel halbiert. Ein ähnlicher Trend ist in den Anteilen am Welthandel zu verzeichnen, und der Anteil Chinas an den globalen Wertschöpfungsketten hat sich von im Schnitt sechs auf 33 Prozent erhöht. Gemessen an ihrer Bilanzsumme kommen die weltweit vier größten Banken inzwischen aus China.
„Make America great again“ ist nur eines der Anzeichen der Erkenntnis des „Westens“, etwas verloren zu haben. Eine Tendenz zum Rückzug auf nationale Interessen und Egoismen – „America first“ – kann in allen betroffenen Ländern registriert werden. Und nicht selten geht der Druck von subalternen und mittleren Klassen und Schichten aus, die im Prozess der Globalisierung oft nichts gewonnen, sondern eher verloren haben und von Verlustängsten geplagt werden. Das beweisen die regionalen und sozialen Muster der Trump-Wähler in den USA, der Brexitiers im Vereinigten Königreiche oder auch des Vormarschs der AfD in Deutschland.
Für die Eigner von Konzernen wie Daimler hingegen – Mercedes-Benz hat erst jüngst eine Fabrik bei Moskau eröffnet – ist es gleich, ob ihr Profit in Russland oder Deutschland erarbeitet wird. Den Arbeitern in Sindelfingen kann das jedoch nicht gleichgültig sein. Die herrschenden Eliten in ihrer Gesamtheit kämpfen natürlich auch gegen den Verlust von globalen Machtpositionen an. Seltsame Kongruenzen.
Bezogen auf den Welthandel zeigt sich die neue Situation in den verschärften Handels- und Investitionskonflikten. Auch wenn das nur einen sehr geringen Prozentsatz betrifft, hat es nach den Analysen von UNCTAD (Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung) und WTO in den vergangenen Jahren mehr protektionistische als liberalisierende Maßnahmen im Welthandel und im internationalen Investitionsgeschehen gegeben. Die Europäische Union hat ihre Screening-Regeln zur Prüfung von Investitionen aus dem Ausland verschärft, und in den Handelskonflikten USA-China oder USA-EU wird mit früher kaum gekannten harten Bandagen gekämpft. Auch die anti-russische Attitude der NATO-Staaten kann nicht nur unter sicherheitspolitischem Blickwinkel betrachtet werden. Roberto Azevêdo, der Generaldirektor der WTO, bezeichnete das Jahr 2019 als ein Schicksalsjahr für die WTO, weil brisante Entscheidungen anstehen und die Auseinandersetzungen darüber zwischen den verschiedenen Staatengruppen und Allianzen eskalieren. Donald Trump lässt schon mal durchblicken, die USA könnten durchaus auch austreten. Multilateralismus wird durch Unilateralismus ersetzt.
Und Deutschland? Deutschland hat seit Jahren protektionistische Politik mittels Lohndumping betrieben und seine Leistungsbilanz lange Zeit auch auf der Grundlage der schwächsten Entwicklung der Lohnstückkosten im europäischen Vergleich nach oben getrieben. Diesbezüglich hat Donald Trump Recht und könnte sich sogar auf den Internationalen Währungsfond (IWF) oder die EU-Kommission berufen. Beide fordern Deutschland auf, es müsse mehr für seine Inlandsnachfrage tun, um seine Überschüsse abzubauen. Die EU schreibt vor, dass diese nicht mehr als sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen dürfen; Deutschland liegt seit Jahren und mit 7,8 Prozent für 2018 erneut deutlich darüber. Vor wenigen Wochen wurde das Außenwirtschaftsgesetz bezüglich ausländischer Direktinvestitionen in Deutschland verschärft und Minister Altmaier schreckt in seiner „Nationalen Industrie-Strategie 2030“ ebenfalls nicht vor Protektionismus zurück.
Obwohl das erreichte Niveau von Globalisierung und internationaler Verflechtung kaum so wie in der Mitte des vorigen Jahrhunderts zurückfallen wird, ist der Ausgang der sich verschärfenden Konflikte unsicher. In der April-Prognose der WTO wird darauf hingewiesen, dass sich der Index der politischen Unsicherheit, gemessen an der Häufigkeit der Verwendung dieses Begriffs, seit der Krise 2007 versiebenfacht hat. Auch wenn das eine sehr unsichere Messmethode ist, so steht doch fest, dass Unsicherheiten und Risiken zunehmen und die Prognostizierbarkeit der Entwicklung darunter leidet. „Jähe Wendungen“ – ältere Leser werden sich noch an diese Formulierung aus späten DDR-Zeiten erinnern – sind nicht ausgeschlossen.
Schlagwörter: Außenhandel, Außenhandelsintensität, Bruttoinlandsproduk, Globalisierung, Jürgen Leibiger