von Jan Opal, Gniezno
Kürzlich brachte eine gute Bekannte aus Berlin die neueste Biographie Rosa Luxemburgs auf dem deutschen Buchmarkt ins Haus. Ernst Pipers Werk trägt den wenig originellen Titel „Rosa Luxemburg. Ein Leben“, weil den bereits Elżbieta Ettinger 1986 für ihre bekannte Biographie gewählt hatte. Aber das kann bloßer Zufall sein.
Bei dickleibigen Werken mit zahlreichen beigefügten Illustrationen reizt es immer, zunächst diese sich näher anzuschauen, bevor gewissermaßen die folgende größere Aufgabe erledigt wird. Pipers Buch bietet reichlich Gelegenheit für diesen Weg, auch scheute der Autor nicht, die beigefügten Bilder dem Leser nach bestem Wissen und Gewissen zu erklären. Soweit, so gut.
Auf Seite 163 gibt es eine dicke Überraschung, denn ein inzwischen bekannter gewordenes Familienfoto mit Rosa Luxemburg aus dem Jahre 1902 wird vom Autor lückenlos entschlüsselt – er nennt die Personen, die auf der Aufnahme zu sehen sein sollen. Das Foto wurde in Berlin zu den Ostertagen aufgenommen, die in jenem Jahr auf die letzten beiden Märztage fielen. In der Mitte sitzt Rosa Luxemburg, neben ihr links vom Betrachter ist der Bruder Maxymilian zu sehen. Alle übrigen fünf Familiengehörigen Rosa Luxemburgs sind indes falsch zugeordnet. Laut den Angaben Ernst Pipers sei Maxymilian mit Ehefrau Stefania und Tochter Halina nach Berlin gereist, sie sollen ihm zur Seite sitzen respektive hinter ihm stehen. Halina war allerdings erst am 24. Januar 1901 in Warschau zur Welt gekommen, kann also auf dem Bild mitnichten das bereits großgewachsene Mädchen sein, auf das Ernst Piper verweist. Auch existiert ein Brief Rosa Luxemburgs an Leo Jogiches, in dem sie im August 1910 mitteilte, dass Maxymilian jetzt nach Berlin kommen werde, um ihr Ehefrau und Kinder vorzustellen. Also waren weder Stefania Augusta noch Halina zu Ostern 1902 in Berlin zu Besuch bei Rosa Luxemburg gewesen.
Bei den übrigen drei Personen, die vom Betrachter aus gesehen den rechten Bildteil dominieren, soll es sich nach Aussage Pipers um Rosa Luxemburgs Bruder Józef, dessen Ehefrau Eugenia und deren gemeinsame Tochter Romana handeln. Auch hier helfen zunächst Geburtsdaten weiter, denn die 1895 geborene Romana war im März 1902 ein sieben oder achtjähriges Mädchen – ganz gewiss aber noch keine Erscheinung, die passend als Teenager beschrieben werden könnte. Zudem wurde am 14. März 1902 in Warschau Jerzy Edward geboren, der Sohn von Józef und Eugenia. Das Eugenia und Romana auf dem Foto abgelichtet worden seien, ist demnach auszuschließen. Auch Józef, der Arzt, wird unter diesen Umständen die Reise nach Warschau alleine nicht angetreten haben. Und Rosa Luxemburgs Nichte Romana hatte zu dieser Zeit, wie in Briefen Rosa Luxemburgs zu lesen ist, eine komplizierte Krankheit erst richtig ausgeheilt, auch das ein Grund, der den erfahrenen Arzt nicht nach Berlin zum Familientreffen fahren ließ.
Um das Bild zu enträtseln hilft ein Brief, den Rosa Luxemburgs am 16. März 1902 an Leo Jogiches schrieb: „Apropos, Andzia und vielleicht auch Munio kommen zu Ostern, aber das wird Dich nicht sehr stören, denn 1. werden die Armen nur drei Tage hier sein, 2. werden sie beide beim Bruder wohnen.“ Mit Andzia ist die Schwester Anna gemeint, mit Munio der Bruder Maxymilian. Der erwähnte andere Bruder, bei dem beide dann auch für die paar Tage unterkamen, war Mikołaj, der seinerzeit in Charlottenburg eine Wohnung unterhielt, die Rosa Luxemburg sehr gefallen hatte. Folglich sind auf dem Familienbild neben Rosa Luxemburg ihre Schwester Anna, die Brüder Maxymilian und Mikołaj, dessen Ehefrau Lily, eine Engländerin, sowie deren gemeinsamen Töchter Jenny und Annie zu sehen.
Abgebildet ist im Buch auch die heute in Amsterdam aufbewahrte Postkarte, die Rosa Luxemburg Ende Dezember 1905 aus Warschau an die Kautskys geschickt hatte, um die geglückte Ankunft in der von Revolution und Konterrevolution aufgewühlten Stadt zu vermelden. Sie unterschrieb wie gewohnt mit „Eure Rosa“. Auf der Postkarte hatten bei der Gelegenheit auch die Geschwister, die Schwägerin Eugenia sowie Rosas Nichte Romana kurze Grüße an die Kautskys mitgeschickt. So auch die Schwester, die „Herzliche Grüße von Anna“ hinzusetzte. Ernst Piper macht aus diesem flüchtigen Familiengruß mit einem Federstrich überflüssige revolutionäre Spielerei, denn Rosa Luxemburg habe – so behauptet er – die Postkarte mit dem Tarnnamen Anna unterschrieben, wohl weil sie die Reise in die Warschauer Illegalität tatsächlich als Anna Matschke angetreten hatte.
Um das Bild abzurunden, sei an dieser Stelle noch auf folgende Kuriositäten verwiesen. Das im farbigen Bildteil abgebildete Gebäude in Zamość, das laut Bildunterschrift Rosa Luxemburgs Geburtshaus sein soll, hat im Jahre 1871 noch gar nicht existiert, es ist erst später errichtet worden. Es bleibt also das Geheimnis des Autors, woher die Information stammen soll, dass es sich um das Geburtshaus handele. Und natürlich will der neugierige Leser auch wissen, was der Autor zu Feliks Tych anzumerken hat, dem wohl besten Kenner von Werk und Leben Rosa Luxemburgs überhaupt. Immerhin findet sich ein merkwürdiger Eintrag, in dem folgendes mitgeteilt wird: „Feliks Tych, der, in Warschau geboren, den Holocaust überlebt hat und nach dem Krieg Direktor des Jüdischen Historischen Instituts war […].“ In der Tat war der 2015 verstorbene Feliks Tych auch Direktor des renommierten Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, und zwar von 1995 bis 2006. Des Autors Aussage ist formal richtig, denn die Amtszeit von Feliks Tych fällt in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, doch wirkt sie recht hilflos, weil sie dem weniger eingeweihten Leser stillschweigend suggeriert, Tych habe als Direktor unmittelbar mit dem Aufbau des Instituts nach Krieg und Okkupation zu tun gehabt. Der 1929 geborene Historiker erlangte nach seinem Studium im Laufe vieler Jahrzehnte weltweite Aufmerksamkeit und Anerkennung als einer der besten Historiker für die Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung, bevor er einige Jahre nach dem politischen Wandel von 1989/90 in die leitende Funktion am Jüdischen Historischen Institut berufen wurde.
Ernst Piper: Rosa Luxemburg. Ein Leben, Karl Blessing Verlag, München 2018, 832 Seiten, 32,00 Euro.
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