22. Jahrgang | Nummer 11 | 27. Mai 2019

„Gebgierig will er sein; aber das sind nur Worte.“

von Ulrich Kaufmann

Neues und Bewährtes von Volker Braun.
Im Vorspann seines Bandes mit Schriften und Reden treten der reife Braun und der junge Goethe in einen Dialog. In Goethes Text „Zum Schäkespeares Tag“ stößt 1771 das Ich mit dem „notwendigen Gang des Ganzen“ zusammen. Diesen „geheimen Punkt“ nimmt Braun in seiner „Verlagerung“ wahr, in dem das „Eigentümliche unseres Wirs, die ungewisse Solidarität unseres Wollens, den nicht notwendigen Gang des Ganzen ändert.“
Dass Braun ein sprachmächtiger Lyriker ist, wissen wir seit seinen „Provokationen für mich“ (1965). Zu Beginn der 60er Jahre galt er in allen Gattungen als eine der erfrischendsten Stimmen der (ostdeutschen) Literatur.
Nunmehr liegen gleich zwei neue Bücher auf dem Geburtstagstisch des Achtzigjährigen. Den Essays und Prosaskizzen wurde ein kleiner, aber feiner Band mit „Handstreichen“ zugesellt: Aphorismen, Dialogfetzen, eigene und gelegentlich fremde Zitate und Werkstatt-Notate. Braun, der diese Notate in Lesungen harmlos-schelmisch „Beifang“ nannte, weiß, dass Handstreiche auch etwas Draufgängerisches, gar (im militärischen Jargon) etwas Überfallartiges meinen können.
Der Band mit Schriften und Reden setzt mit drei Arbeiten aus dem Jahre 1977 ein und er endet mit seinem fulminanten Lessing-Vortrag, den er vierzig Jahre später (2018) hielt. 1977, ein Jahr nach der Biermann-Ausbürgerung, begann Braun sein „Werktagebuch“, und er schrieb den Essay „Büchners Briefe“. Dieser kam als harmloses Nachwort zu einer schmalen Briefauswahl daher. Der Essay, der ein tiefes Nachdenken über eine tatsächliche Revolution in „stehender Zeit“ anregen wollte, durfte nur in Frankreich und in Frankfurt a.M. erscheinen. Der Text existierte für die offizielle DDR nicht, war somit nicht zitierbar. „Büchners Briefe lesend, muss man sich mitunter mit Gewalt erinnern, dass es nicht die eines Zeitgenossen sind.“
Braun sprach und schrieb über Shakespeare, Goethe, Klopstock, Kafka, Rimbaud, Trotzki, seinen „Bruder“ Karl Mickel und andere. Ein Bündel von Arbeiten dreht sich um die Ereignisse 1989/90. Plötzlich keimte für kurze Zeit auch beim Autor Hoffnung auf. Es geht ihm indessen um keine „kleine Wende“, sondern, so weiß es Braun heute, um eine „große Wende“ für die Gattung Mensch. Die Texte des philosophischen Denkers sind wie stets dicht, anspruchsvoll und sie erschließen sich, wenn sich der Leser auf gründliches Lesen einlassen möchte.
Neuleser des Dichters könnten mit der Lektüre von Frauenporträts einsetzen, die der Büchner-Preisträger zu einer kleinen Trilogie zusammenfügte. Er schrieb autobiographische Text über Frauen, die ihm in schweren Zeiten zur Seite standen: Helene Weigel, Anna Seghers und Christa Wolf. Die Weigel holte ihn zur Zeit des unseligen Kulturplenums 1965 unter den Schirm des „Berliner Ensembles“ und sie stiftete Kontakte zum Suhrkamp Verlag. Als die Wellen um die „Unvollendete Geschichte“ 1977 hochschlugen, schützte die weise Seghers den jungen Autor. Und die Wolf war es, die an die Leipziger Karl-Marx-Universität schrieb, um eine Exmatrikulation des rebellischen, sozialistischen Poeten zu verhindern. Der Freundin Christa Wolf sprach Braun 2011 am Grabe die letzten Worte, welche hier gleichermaßen dokumentiert sind. „Sie hat“, so Braun, „der deutschen Literatur wie wenige Würde und Weltbewusstsein wiedergegeben.“
Beide Bände ziehen eine vorläufige Summe des poetischen Werkes von Volker Braun. Scharf und nüchtern beobachtet er Literatur- und Weltgeschehen. Man ist ergriffen und spürt, wie sehr die Widersprüche, die Braun liebt und braucht, auch ihn fast zerreißen.
„Die Liebe ist der zweite Beruf, damit es zum Leben langt“, heißt einer der vielen „Handstreiche“ des Volker Braun. In seinen jüngsten Lesungen zitierte er stets diese Sentenz.

Volker Braun, Die Verlagerung des geheimen Punkts. Schriften und Reden, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 320 Seiten. 28,00 Euro.
Volker Braun, Handstreiche, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 112 Seiten. 18,00 Euro.