22. Jahrgang | Nummer 8 | 15. April 2019

Studie zum sexuellen Kindesmissbrauch in der DDR – eine Anmerkung

von Frank-Rainer Schurich

Vergangenheit aufarbeiten macht großen Spaß,
solange es nicht die eigene ist.
Eva Leipprand,
Die Weltbühne 1/2/1992

Es gibt Geschehnisse, die man nicht vergessen kann und darf, und dazu gehört auch das tragische Kapitel des sexuellen Missbrauchs von Kindern in der DDR, die heute noch als Erwachsene und nach mehr als 30 Jahren an den Folgen der Verbrechen leiden.
Nach anonymen schriftlichen Befragungen in der DDR (1978) war das Verhältnis von angezeigten (jährlich rund tausend Fälle) und begangenen Straftaten bei Mädchen 1:6,5 und bei Jungen 1:10. Diese Fakten drangen aber kaum in die Öffentlichkeit, weil es nicht in das von Erfolgspropaganda geprägte Selbstverständnis des Sozialismus passte. Es war für die sozialistische Gesellschaft, die jede Kriminalität als wesensfremd stigmatisierte und die sich als überaus kinderfreundlich bezeichnete, ein unerträglicher Gedanke, dass noch jährlich Tausende von Kindern unter 14 Jahren im sozialistischen deutschen Staat durch sexuelle Attentate verantwortungsloser Menschen missbraucht werden, wie in einer Untersuchung des Kriminologen Karl-Heinz Röhner (1992) ganz unaufgeregt und ohne politischen Auftrag nachzulesen ist.
Den heutigen „Aufarbeitern“ reichten diese Aussagen natürlich nicht, so dass fünf Sozialwissenschaftler Anfang März 2019 im Auftrag einer „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ in Berlin eine Fallstudie mit dem Titel „Sexueller Kindesmissbrauch in Institutionen und Familien in der DDR“ veröffentlichten.
Wenige Tage nach der Konferenz über Missbrauch und Kinderschutz in der katholischen Kirche im Vatikan passte es ganz gut, zufällig oder nicht, den Finger auf andere Wunden zu legen. Auch der Fall des vielfachen Kindesmissbrauchs in Lügde bei Detmold (NRW) trat so erfreulicherweise in den Hintergrund. Seit 2008 wurden nach bisherigen Erkenntnissen auf dem Campingplatz an der Landesgrenze zu Niedersachsen mindestens 40 Kinder im Alter von vier bis 13 Jahren in mehr als 1.000 Fällen (!!!) Opfer sexuellen Missbrauchs.
Die vorgelegte Fallstudie ist nach Aussagen der Autoren im statistischen Sinne nicht repräsentativ. Darum ging es auch gar nicht. Vor allen Dingen sollten „konzeptuelle und strukturelle Zusammenhänge, die sexuelle Gewalt in der DDR möglich gemacht und befördert haben“, aufgedeckt werden. Trotz des nicht repräsentativen Materials sind die Autoren der Meinung, dass es mit qualitativen Methoden möglich ist, „DDR-spezifische Konstellationen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche herauszuarbeiten“.
Und das sieht dann, um ein Beispiel zu nennen, so aus: Die Autoren halten an der Totalitarismus-Doktrin fest, konkret an der faktischen Gleichsetzung der „beiden deutschen Diktaturen“. Was bedeutet: Verharmlosung der Hitler-Barbarei einerseits und Dämonisierung der DDR-Gesellschaft andererseits. Den Autoren drängte sich auf Seite 39 bei der Beschreibung mancher Praktiken der Gewaltausübung in Heimen und Werkhöfen, aber auch in medizinischen Institutionen der DDR (???) „schließlich die Frage nach dem Erbe des Nationalsozialismus bzw. personellen, konzeptuellen und nicht zuletzt räumlichen Kontinuitäten zum Faschismus auf“. Nun, ganz sicher waren sie sich nicht: „Hierzu wären allerdings eine systematische historische Untersuchung und ein differenzierter Vergleich notwendig.“
Damit ist schon klar geworden, dass in der Studie kräftig „aufgearbeitet“ statt unvoreingenommen historisch geforscht wird. Zudem dürfte sich in den Sozialwissenschaften herumgesprochen haben, dass Vergangenes gar nicht „aufgearbeitet“ werden kann. Die geschichtlichen Zeugnisse und Erinnerungen lassen sich wahrnehmen und erkennen, vielleicht auch nacherleben und verstehen – oder eben falsch interpretieren und bewusst oder unbewusst missverstehen.
Ja, es muss zutiefst bedauert werden, dass in der DDR Kinder und Jugendliche in einem sozialen Milieu lebten, das eine gesunde geistige, körperliche und soziale Entwicklung erschwerte oder unmöglich machte. „Die beste Heimerziehung“, schreibt Willi Büchler in einem Leserbrief (neues deutschland vom 30. März 2019), „konnte und kann den Wegfall des Elternhauses nicht kompensieren. Zahlreiche Biografien zeugen davon, dass es dennoch – im Rahmen des Möglichen – gelungen ist, wirkungsvolle kameradschaftliche und pädagogische Hilfe zu leisten. Dazu gebührt allen, den Helfern und Jugendlichen, Anerkennung für ihre Lebensleistung.“ Unter dem Deckmantel der „qualitativen Analyse“ will die Fallstudie aber ganz etwas anderes: Diffamierung und Stigmatisierung aller Mitarbeiter von Kinderheimen, Jugendwerkhöfen, Jugendämtern und so weiter.

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Die Liste der Unterstellungen ist lang. Im Abschnitt „Sexuelle Übergriffe als Normalität“ heißt es: „Bereits im Normalkinderheim erlebten die Kinder nicht nur die Normalität von körperlichen Strafen, sondern physische und teilweise sexuelle Übergriffe durch Erzieher und Gleichaltrige.“
Einige Thesen aus der Fallstudie sollen unkommentiert wiedergegeben werden:

„In der Praxis der totalen Institution entsprechen die DDR-Heime und Jugendwerkhöfe dem, was aus Fürsorgeheimen der frühen Bundesrepublik und anderer europäischer Länder bis in die 1960er Jahre bekannt ist.“

„Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist aber kein DDR-Phänomen und zudem nicht nur ein historisches Thema.“

„Neben sexueller Gewalt von Erziehern prägten die physische und sexuelle Gewalt unter den Peers (den Kindern und Jugendlichen in den jeweiligen Gruppen – FRS) den Alltag in den Einrichtungen. Im gewissen Sinne ‚reproduzierten‘ sie die strukturelle Gewalt und das Machtgefälle, das zwischen Erziehern und Kindern bzw. Jugendlichen herrschte, innerhalb der Gruppenstrukturen.“

„Die Betroffenen berichten von familiären Problemen mit Erwachsenen, die in der Armee, Staatssicherheit …, Polizei bzw. dem Werkschutz tätig waren. Zwar werden die Gründe für die Heimeinweisung nicht als politisch motiviert angesehen, da die familiäre Vernachlässigung und Gewalt durch die Behörden als kindsgefährdende Situation angesehen werden. Dennoch dürften die in militärischen und militärnahen Institutionen verbreiteten Männlichkeitsbilder die Gewaltausübung in der Erziehung von Jungen zusätzlich legitimiert haben.“

„Drei der angegeben Täter gehören privilegierten Schichten an. Einer von ihnen ist Naturwissenschaftler, der zweite hochrangiger Parteigenosse, der dritte schließlich Außenhandelskaufmann, welcher in einem Konsulat arbeitet und später politisch verfolgt wird.“

„Die Betroffenen … stellen die Entscheidung der Jugendämter, sie aus ihren Familien herauszunehmen, nicht infrage. Sie thematisieren allerdings, dass sie unter den Umständen, wie dies geschah und unter der eskalierenden Fortsetzung der Gewaltverhältnisse in den Heimen selbst massiv gelitten haben.“

„Erzieherinnen und Erzieher waren bei der Gewalt unter Heimkindern ‚außen vor‘, bekamen davon entweder nichts mit, interessierten sich nicht dafür oder überließen die Nächte der Selbstorganisation. Es ist davon auszugehen, dass das Thema sexueller Missbrauch in ihrer pädagogischen Ausbildung, wenn sie überhaupt eine absolviert hatten, nicht vorgekommen war.“

„Das doppelte Eingeschlossensein (in der DDR und im Heim – FRS) beinhaltete weiterhin, dass die DDR als ‚Erziehungsdiktatur‘ innerhalb von Heimen und Jugendwerkhöfen in besonderer Konzentration wirkte.“

„Die Delegitimierung der DDR als Unrechtsstaat hat es sicher einigen Betroffenen erleichtert, über das massive Unrecht, das sie als Kinder und Jugendliche am eigenen Leib erfahren haben, öffentlich zu sprechen.“

Zur Situation der Betroffenen in Heimen der DDR: „Ihr ungestillter ‚Hunger‘ nach Aufmerksamkeit bei gleichzeitiger Abwesenheit guter Eltern-Objekte sowie ihre große Abhängigkeit führten dazu, dass sexuelle Übergriffe letztlich doch als Teil einer ‚Beziehung‘ hingenommen und gedeutet wurden.“

„Allerdings gingen Täter in den Einrichtungen der Jugendhilfe auch nicht immer straffrei aus.“

„Heimeinweisungen aus politischen Gründen im engeren Sinn wurden nicht berichtet.“

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Aus der Fallstudie geht hervor, dass sich die bundesdeutschen Institutionen um die DDR-Opfer so gut wie gar nicht kümmern. Unvorstellbar das Folgende: Einigen, im Beruf erfolgreichen Opfern wird die Hilfe deshalb verwehrt, weil sie äußerlich nicht dem gängigen ‚Opferstereotyp‘ entsprechen, „eher dem Täterstereotyp“. Die berüchtigte Lehre vom geborenen Verbrecher des Herrn Cesare Lombroso lässt herzlich grüßen! Bedauert wird von den Betroffenen, dass die Beweislast bei ihnen liege. Ein Opfer habe 14 Jahre um seine Rehabilitierung gekämpft!
In diesem Abschnitt gibt es durchaus realistische Einschätzungen: „Zugespitzt wirkt sich auch das Status- und Machtgefälle zwischen den Antragstellerinnen und Antragstellern und denen ihnen gegenüber sitzenden, gut abgesicherten Behördenangestellten sowie den hoch honorierten Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Politik aus. Dadurch werden Ohnmachtserfahrungen gegenüber staatlichen Machtapparaten reaktiviert, was die Betroffenen verzweifelt oder wütend zurücklässt.“
Ganz schlimm wird es aber am Ende der Studie. Da wird allen Ernstes behauptet, dass sowohl sexualisierte Gewalt gegen Kinder (wie Kindesmisshandlungen und Kindestötungen in der DDR) überhaupt nicht erfasst wurden, wodurch sie „quasi nicht existierte“. Dabei hätte ein Blick in das statistische Jahrbuch der DDR die Erkenntnis erleichtert: Beim sexuellen Missbrauch von Kindern wurden 1988 laut den offiziellen Kriminalstatistiken in der DDR 1.091 Fälle, in der BRD 11.404 Fälle verzeichnet. Vergleichbarer als absolute Zahlen sind jedoch Berechnungen, die sich auf 100.000 Einwohner beziehen. Danach waren es in der DDR sieben Straftaten pro 100.000 Einwohner, in der BRD 19. In beiden Ländern war die Kinderschändung das häufigste Sexualdelikt.
Im Bereich der Sexualstraftaten gibt es auf der ganzen Welt, der Natur der Sache nach, eine relativ hohe Dunkelziffer. Danach war das Dunkelfeld in der DDR zwar beträchtlich, wie am Anfang bereits skizziert wurde, aber grob geschätzt nur etwa ein Drittel gegenüber den Verhältnissen in der alten BRD.
Hanebüchen ist die Behauptung, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern in der DDR in der Ausbildung von Polizistinnen und Polizisten, Lehrenden an Schulen oder den Mitarbeitern der Jugendämter als Thema gar nicht auftauchte, so dass keine Auseinandersetzung mit dieser Problematik erfolgen konnte.
Auch hier wäre Blick in die Literatur hilfreich gewesen. Allein die Literaturliste zu diesem Themenkreis ist viele Seiten lang. Es gab vom Ministerium des Innern der DDR, für die Kriminalpolizei zuständig, noch heute lesenswerte Monografien (beispielsweise von Gerhard Feix „Die Bekämpfung von Sexualverbrechen an Kindern“, 1961), in Universitätslehrbüchern wurde das Thema tiefgründig und praxisnah abgehandelt, so vom Juristen und kriminalistischen Psychologen Prof. Dr. Axel Römer, ebenso in diversen wissenschaftlichen Artikeln – verfasst von Kriminalisten, Juristen, Kriminologen, Soziologen, Psychologen, Psychiatern, Gerichtsmedizinern und so weiter.
Außerdem konnte man an der Humboldt-Universität den akademischen Grad eines Diplomkriminalisten erwerben. „Befragung und Vernehmung von Kindern und Jugendlichen“ wurde ebenso unterrichtet wie das weite Gebiet der Untersuchung von Sexualstraftaten, zu denen auch in der DDR der sexuelle Missbrauch von Kindern zählte. „Als ‚vorzügliche Experten‘ bezeichnete […] der innenpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion Björn Lakenmacher die aus der DDR übernommenen Kriminalisten in der brandenburgischen Polizei. Das Bundesland zehre davon ‚immer noch‘, doch gehe dieser Spezialistenkreis demnächst ‚in Serie in Pension‘. Damit gehe das Fachwissen der Beamten verloren, die in der DDR an der Humboldt-Universität das Fach Kriminalistik studiert haben“, wie 2014 im neuen deutschland zu lesen war, bezeichnenderweise unter der Überschrift „CDU-Fraktion lobt DDR-Kriminalisten“.
Heißt, dass die DDR-Kriminalisten sowohl an der Fachschule der Kriminalpolizei in Aschersleben als auch an der Humboldt-Universität zu Berlin hervorragend ausgebildet waren.
In allen Volkspolizeikreisämtern und Volkspolizei-Inspektionen (in Berlin) gab es Kommissariate III, deren Aufgabe es unter anderem war, zielgerichtet und mit hoher Effektivität Straftaten mit unbekannten Tätern aufzuklären und die Täter zu ermitteln. Innerhalb dieser Kommissariate war der sexuelle Missbrauch von Kindern (§ 148 StGB) ein Schwerpunkt der Arbeitsgruppe III/2. Die noch erhaltenen Akten beweisen, dass die meisten der angezeigten Verbrechen gewissenhaft untersucht und die Straftäter in fast allen Fällen auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden.
Und dies noch: Während die Kriminalgeschichte des sozialistischen deutschen Staates dem Zeitgeist entsprechend höchst vereinfachend in speziellen Apparaturen wie Enquete-Kommission, Kolumne, Talk-Runde und jetzt Fallstudie aufgearbeitet wurde und wird, bürstete ein westdeutscher Sozialwissenschaftler in der Fachzeitschrift Kriminalistik gegen den Strich. Schon fünf Jahre nach der deutschen Einheit fragte sich Prof. Dr. iur. Dipl.-Psych. Robert Northoff, tätig an der Fachhochschule Neubrandenburg (Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung), unter der Überschrift „Ohne Vorurteil und Verlegenheit“ in der  Kriminalistik, ob denn die DDR ein kriminalpräventives Gesamtkunstwerk gewesen sei. Seine bemerkenswerten Untersuchungen belegen, „dass die DDR bezogen auf die Kriminalität privater Personen der sicherere Staat gewesen ist“ und dass „der ganzheitlich, gesellschaftsorientierte Ansatz der DDR (zur Kriminalitätsvorbeugung – FRS) im Kern durchaus fortschrittlich“ war.

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Bleibt die Frage, wie sich die gegenwärtige Situation darstellt. Experten gehen von jährlich circa 250.000 Fällen des sexuellen Kindesmissbrauchs in der BRD aus. Die offizielle Kriminalstatistik verzeichnete für das Jahr 2018 12.321 Straftaten. Nach aktuellen Schätzungen des Bundeskriminalamtes (BKA) wird von einem Verhältnis Hell- und Dunkelfeld von 1:15 ausgegangen, andere Fachleute meinen, dass das Verhältnis über 1:20 sei. Das heißt, dass in den letzten Jahren Millionen (!!!) Kinder sexuell missbraucht worden sind.
Es gibt also noch viel zu tun, „konzeptuelle und strukturelle Zusammenhänge“ aufzudecken, die sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen heutzutage möglich machen und befördern.
Das Schlusswort gebührt freilich einem Opfer aus der DDR. Der Leserbrief von Jürgen Karsten aus Berlin war kürzlich in der Tageszeitung neues deutschland veröffentlicht worden: „Nein, ich will nicht leugnen, dass es Fälle von Missbrauch in Elternhaus, Schule, Heim und Werkhöfen gab. Aber dass diese länger tabuisiert wurden als die Fälle in der BRD, kann ich nur mit einem müden Lächeln zur Kenntnis nehmen. Es vergeht kein Jahr, in dem nicht irgendwelche Fälle dieser Art in der BRD selbst bekannt wurden und werden. Doch die Opfer sind auch nicht besser dran als die Opfer der ehemaligen DDR. Und ich weiß, wovon ich rede. Ich war selbst ein so tabuisiertes Opfer in der DDR. Erst im Elternhaus, dann in verschiedenen Heimen. Und ich habe mich verweigert, mir eine Hilfe aufdrücken zu lassen, die nichts bringt, in der DDR wie in der BRD.
Ich fordere Aufarbeitung ein, die beide Seiten gleich betrifft. Es geht nicht um einen Schadenersatz durch den Staat, sondern um eine soziale Fürsorge für solche Opfer. Mir nützen keine Millionen etwas, um meine aus der Kindheit entstandenen Probleme zu lösen. Und viele, die glauben, den Stein der Weisen in dieser Frage gefunden zu haben, unterliegen nach meinem Verständnis einem schweren Irrtum. Die Frage, wie gehen wir mit Opfern von Gewalt überhaupt um, beweist, dass auch die BRD, wie übrigens überall auf der Welt (siehe Vatikan), nur darüber redet, um sich selbst zu beweihräuchern.“