von Klaus Hammer
Picasso, das Jahrhundertgenie, hatte kein Talent zur Gelassenheit. Niemand ging die Welt so leidenschaftlich an wie er. Er wollte die Gegenstände, die seine Aufmerksamkeit erregten, festhalten, in sie eindringen, sich in ihnen verlieren. Er liebte starke und eindeutige Gefühle, und den stärksten Ausdruck der Gefühle fand er in der Umarmung, in der Liebe, in der Sexualität. Kein Künstler hat uns in seinen Werken eine so lebendige Autobiographie seines Sexuallebens hinterlassen wie er. Streckenweise kann man ihm fast von Tag zu Tag folgen, durch Ausbrüche von Lüsternheit und Hass, Sehnsucht und Kastrationsangst, Dominanz- und Impotenzphantasien, Selbstironie, Zärtlichkeit und Potenzstolz. Und fast immer haben seine Gefühle für die Frau, mit der er gerade zusammenlebte, seine Arbeit beeinflusst, vor allem natürlich, wenn das Motiv der menschliche Körper war. Picassos Erfolg liegt nicht zuletzt darin begründet, dass es ihm gelungen war, die lebendigsten Bilder sinnlicher Lust zu malen, die je in der Kunst entstanden sind.
Das expressive Spätwerk Picassos ist wohl am besten repräsentiert in der Sammlung seiner Frau Jacqueline Picasso, mit der er die letzten zwei Lebensjahrzehnte verbrachte. Deren Tochter Catherine Hutin hat über 130 bisher kaum öffentlich gezeigte Werke – Bilder, Zeichnungen, druckgrafische Blätter, Keramiken und Skulpturen – für die Ausstellung im Museum Barberini in Potsdam zur Verfügung gestellt. Sie ist nur hier und an keinem anderen Ort zu sehen. Sie stammen aus den Jahren des Refugiums in Mougins über den Bergen von Cannes an der Côte d’Azur. Hierhin hatte sich der achtzigjährige Picasso 1961 mit seiner letzten Lebensgefährtin und Frau, Jacqueline Roque, zurückgezogen, und hier ist er auch 12 Jahre später 91jährig gestorben. Die Sorge um seine knapper werdende Lebenszeit, das Entsetzen und sein Widerstand gegen Altern und Tod haben ein ausuferndes Spätwerk entstehen lassen, das seinerzeit bei den Zeitgenossen vielfach auf Unverständnis stieß. Was sollte diese überquellende Sexualität und scheinbare Formlosigkeit der Bilder? Waren das nur noch „unzusammenhängende Schmierereien, ausgeführt von einem rasenden Greis im Vorzimmer des Todes“, wie sich ein einstiger Bewunderer Picassos enttäuscht äußerte? Erst im Nachhinein wurde allmählich dieses obsessive Spätwerk als die wohl avancierteste Manifestation einer radikal erneuerten Kunst begreifbar.
In panischer Angst vor der auslaufenden Zeit stand Picasso für ein großformatiges Gemälde nicht mehr Zeit zur Verfügung als für eine Radierung. Alles drängte auf Schnelligkeit und Abkürzung, auf eine Hieroglyphensprache hin, die das jeweilige Thema in Kürzeln fasste. Ganze Partien eines Bildes blieben unbearbeitet. Der Improvisation und Skizzenhaftigkeit seiner Bilder stehen jedoch die präzisen Zeichnungen und die detailreichen, vom Wechsel zwischen den Formenwelten geprägten grafischen Arbeiten gegenüber. Seine beiden großen Radierfolgen „Suite 347“ und „Suite 156“, sein druckgrafisches Testament, fehlen, auf denen Picasso auf der Schwelle zum Tod noch einmal das Schauspiel des Lebens in einer überströmenden Fülle von Figuren und Schauplätzen paradieren ließ, aber Gaukler, Maler und Modell, lüsterne Frauen, alte Männer als Voyeure, heimtückische Kupplerinnen, austauschbare Helden aus Mantel- und Degenstücken, Liebeszenen, Zitate der großen klassischen Meister finden wir auch in seinen anderen Werken. Alle dunklen wie hellen Facetten der menschlichen Seele werden ausgeleuchtet. Um diese Gegensätzlichkeit des Mal- und des Zeichenstils beim späten Picasso, um die Unterscheidung der Strategie des Malers von der des Zeichners und Grafikers ist es den Kuratoren zu tun, und damit gerade um die Mischung aus Bildern und Arbeiten auf Papier in der Ausstellung, um das stereotype Urteil in Frage zu stellen, das man sich bisher vom Spätwerk Picassos gemacht hatte.
Der Gegensatz zwischen vehementer erotischer Präsenz und dem Verfall des Alters beziehungsweise der autobiographisch eingefärbten Symbolfigur des Voyeurs wird förmlich zur Obsession. Als Maler oder Bildhauer, als Musketier oder als alter Mann tritt der Künstler in Erscheinung, ist melancholisch oder gierig, zärtlich oder besessen, wobei sich in die üppigen Objekte seines Verlangens jene schmerzhafte Erfahrung der Endlichkeit des Lebens eingeschrieben hat. Die immer wieder beschworenen Akte – sinnlich und sinnend, aber auch schamlos und vulgär, machen das ebenso deutlich wie die starrenden Augen, in denen sich alles Begehren so unverhüllt wie ohnmächtig manifestiert. Gierende Körper, Finger, Zehen, Lippen wollen den Partner und den Umraum erobern. Hände suchen verzweifelt den verbrauchten, schlaffen Körper zu massieren. Ganze Variationen verzerrter, zum Schrei geöffneter Münder bringen das Erschrecken des Greises zum Ausdruck.
Die Bilder beschränken sich auf nur wenige Motive: Die anachronistische Maskerade der Mantel- und Degenstücke, Selbstporträts, pastorale Liebeszenen, das Thema vom ungleichen Liebespaar, Aktfiguren. Der Künstler führt den Betrachter abwechselnd ins Atelier, Bordell oder in die Kunstgeschichte, so wenn er Manets „Frühstück im Grünen“ oder Poussins beziehungsweise Davids „Raub der Sabinerinnen“ variiert und paraphrasiert. In ganzen Serien spielt er immer wieder das gleiche Thema mit anderen Farben, Figuren, Stellungen und Details durch. Auf die Meister Raffael, Rembrandt und Ingres verweisend tritt das Thema Künstler und Modell in souveräner Freiheit und unendlichen Abwandlungen hervor. Gerade hier hat er in fremder Draperie verschlüsselte Selbstbildnisse geboten. Seine Phantasmen und Verkleidungen – als Musketier, als Torero, als Greco, als Rembrandt, als junger, als alter Liebhaber, als Voyeur oder Akteur – sind unübersehbar. Dieses Malen und Zeichnen kannte keine Tabus. Tod und Sexualität treten zusammen. Tod wird das schamlose Thema vieler Bilder, aus denen uns Riesenaugen anstarren. Das Entsetzen über die Vergänglichkeit und die Verwesung des Fleisches springt auf den Betrachter über. Mit erschütternden Bildern der Vereinsamung verabschiedet sich Picasso von seiner Umwelt.
Mit einer solchen Geschwindigkeit und zugleich Dringlichkeit hat er auch modelliert oder aus heterogenen vorgefundenen Elementen montiert. Collage oder Assemblageverfahren dominieren in der Plastik dieser letzten Jahre. Fast alle Arbeiten werden nach Entwürfen in Blech geschnitten. Bildliche Vorstellungen klappen plötzlich in sich zusammen, machen anderen Platz. Die einen Flächen verschwinden hinter anderen, andere Flächen öffnen sich. Die fließende Zeit wird hier ganz existenziell spürbar. Es ist unmöglich, inmitten dieser permanenten Veränderung für ein Ding, für ein Gesicht so etwas wie Identität festzustellen.
So belegen die ausgestellten Arbeiten in faszinierender Weise das – lebenslange – Bestreben Picassos, seine ganze Kunst zu einer großen Selbstbiographie zu machen, sich darin aber in phantastischen Verformungen und Metamorphosen, in Masken, Rollen und Symbolen auszusprechen. Das letzte großformatige Bild in der Ausstellung, zwei „Figuren“ über einen Wasserspiegel gebeugt – es soll unvollendet sein –, malte er am 25. Mai 1972, zehn Monate vor seinem Tode: Es soll auf der Staffelei in seinem Atelier gestanden haben, als er am 8. April 1973 starb. Das rauschhafte Liebesverlangen eines Paares wird von einer riesigen Meereswoge bedroht. Fast ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Künstlers soll hier ein neuer Blick auf die Jahre in Mougins geworfen werden, gezeigt werden, wie Picasso nicht nur museale Meisterwerke wie Rembrandt, Ingres, Delacroix und Manet als mögliche Inspirationsquellen aneignete, sondern sich auch mit den Avantgarden der 60er Jahre auseinandersetzte, mit Informel,Op-Art, Pop-Art, mit der modernen Unterhaltungswelt des Fernsehens und so weiter, wozu die Ausstellung aufschlussreiche Gegenüberstellungen bietet.
Picasso ist und bleibt unser Zeitgenosse.
Picasso – Das späte Werk. Aus der Sammlung Jacqueline Picasso, Museum Barberini Potsdam, Alter Markt, bis 16. Juni 2019 täglich außer dienstags 10–19 Uhr; Katalog 29,90 Euro.
Schlagwörter: Jacqueline Roque, Klaus Hammer, Museum Barberini, Pablo Picasso, Spätwerk