von Manfred Orlick
Roger Melis (1940–2009) war einer der bedeutendsten Fotografen der DDR. Kaum ein zweiter Fotograf hat den ostdeutschen Alltag so realistisch festgehalten wie er … und über einen so langen Zeitraum: vom Bau der Mauer 1961 bis zu ihrem Fall 1989. In diesen fast drei Jahrzehnten erforschte er als kritischer Beobachter und Chronist das Innenleben der Republik. Er hielt keine spektakulären Momente mit der Kamera fest, sondern die Menschen in ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen, er zeigte ihre kleinen Freuden, ihre Hoffnungen und ihre Aussichtslosigkeit.
Der umfangreiche Bildband „Die Ostdeutschen“ aus dem Leipziger Lehmstedt Verlag versammelt neue, weitgehend unbekannte Fotografien aus dem Nachlass des Künstlers. Der Band enthält zahlreiche Bildserien und Reportagen, meist ohne Auftrag und ohne Aussicht auf Veröffentlichung entstanden. So war Melis weitgehend frei von äußeren Zwängen. Die älteste Bildserie dokumentiert eine gemeinsame Militärparade der Sowjetarmee und der Nationalen Volksarmee am 8. Mai 1965. Melis interessierte sich aber weder für die Staats- und Parteiführung auf der Tribüne noch die Zurschaustellung der Panzer und Raketen, vielmehr für abseits sitzende Mitglieder der Kampfgruppe beim Kartenspiel oder Passanten, die die Truppenschau distanziert beobachten. Auch die Jugendlichen, die Melis auf dem Berliner Rummelplatz 1969 porträtierte, entsprachen sicher nicht dem sozialistischen Wunschbild.
Andere Reportagen führten den Fotografen ins winterliche Meißen (1969) oder zu einer Feldbaubrigade in der Uckermark (1978). Sein fotografisches Werk wurde auch von Berliner Stadtansichten – vom Zerfall der Altbausubstanz bis zu den Neubauvierteln von Marzahn – oder Besuchen in verschiedenen Werkstätten und Fabriken geprägt. Gewissermaßen als chronologische Klammer zur Militärparade von 1965 ist die letzte Bildserie der Feier am Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 in Berlin gewidmet. Auch hier hielt Melis nur das beiläufige Geschehen am Rande der Vollzugsjubelfeier fest.
Im Zentrum von Melis’ Schaffen stand neben diesen Bildserien zu allen Zeiten das Porträt. Das betraf zu allererst Aufnahmen von Schriftstellern, Bildhauern, Malern, Schauspielern und Fotografen. So finden sich in dem Bildband eindrucksvolle Porträts von Anna Seghers, Ulrich Plenzdorf, Annekathrin Bürger, Klaus Renft oder Jürgen Kuczynski, aber ebenso Kinderporträts oder Aufnahmen von Berufstätigen (vom Spreewaldkahnbauer bis zur Fischverkäuferin) in ihrem Arbeitsumfeld. So ist ein fotografischer Querschnitt durch nahezu alle Schichten der Bevölkerung entstanden.
Ein Großteil dieser nachgelassenen Aufnahmen aus drei Jahrzehnten ist vom 12. April bis zum 28. Juli 2019 in den Berliner Reinbeckhallen zu bestaunen. Die von Mathias Bertram kuratierte Ausstellung „Die Ostdeutschen“ ist die bislang umfangreichste Retrospektive des DDR-Fotografen. Der Archivar und Stiefsohn von Roger Melis, der auch schon die anderen Melis-Fotobände im Lehmstedt Verlag betreute, verweist darauf, dass der Ausstellungstitel bewusst und ironisch gewählt wurde, schließlich seien die Ostdeutschen „zum beliebten Feuilletonthema“ geworden, obwohl es eine „kollektive Identität“ nie gegeben hat. Vielmehr wollte Melis die Ostdeutschen zeigen, wie sie sich selbst sehen wollten: selbstbewusst, offen, erfinderisch, nach vorne schauend und sicher ein wenig skeptisch. Im Bildband und in der Ausstellung findet man zahlreiche unverklärte Beispiele dafür. Roger Melis hat einfach das fotografiert, was er gesehen hat.
Roger Melis: Die Ostdeutschen, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2019, 223 Seiten, 28,00 Euro.
„Roger Melis – Die Ostdeutschen“, Reinbeckhallen, Reinbeckstr. 17, Berlin-Oberschöneweide, bis 28. Juli, Do/Fr 16–20 Uhr, Sa/So und feiertags 11–20 Uhr.
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