von Renate Hoffmann
Man wagt es kaum, ihn, den Großmeister der Renaissance, zu befragen – und wo beginnend, wo endend? Den „uomo universale“ Genannten, am 15. April 1452 in Anchiano bei Vinci Geborenen und am 2. Mai 1519 im Schloss Cloux (Amboise an der Loire) Verstorbenen. Es ist müßig, die Bereiche in denen er tätig war, umfassend darzulegen, Gedankenreichtum und Visionen des Ideenträgers aufzählen zu wollen. Vielleicht kommt man ihm näher über die Schwelle eines seiner Grundsätze: „Das größte Vergnügen ist die Erkenntnis.“
Zu Zeiten hieß es, er sei ein Träumer gewesen, der seine blühende Fantasie auch in die Technik eingebracht hätte, ohne über fundiertes Wissen zu verfügen. Wo aber bliebe jeglicher Fortschritt ohne schöpferische Vorstellungskraft? Gewiss, im Burgmuseum von Vinci die Nachbauten von Leonardos Flugmaschinen und die zugehörenden Zeichnungen zu sehen; im Louvre vor Madonna Lisa, Gemahlin des Francesco del Giocondo zu stehen, und durch den „Leonardo-Wissenspark“ des Schlosses Cloux (jetzt Chateau du Clos Lucé) zu gehen. Das lässt staunen, ja beinahe ungläubig werden.
Das Staunen nimmt zu, die Zweifel schwinden, wenn man Leonardos Schreiben aus dem Jahr 1482 an den Herzog von Mailand, Ludovico Sforza (1452–1508) liest. Dem neuen Dienstherrn empfiehlt er sich als Architekt, Musiker, Organisator von Festen, Schriftsteller, Festungsbaumeister, Kriegsingenieur, Städteplaner, Maler, Bildhauer. Er ist bereit, „von Dingen, die irgendjemandem als unmöglich oder gar undurchführbar erscheinen“, Proben vorzuführen. – Es verwundert nicht, dass Leonardos erster Biograph Giorgio Vasari, Architekt und Maler (1511–1574), den genialen Künstler als „göttlich“ bezeichnet; und Sigmund Freud über ihn urteilt: „Er selbst glich einem Menschen, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während die anderen noch alle schliefen.“
Den Forscher Leonardo da Vinci, von Wissensdurst und Begeisterung getrieben, drängt es, ein Gesamtwerk über die Natur zu schreiben mit dem anspruchsvollen Titel „Vom Himmel und von der Erde“. Es soll seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse enthalten, klärende Zusammenhänge herstellen und auf das fruchtbare Ineinandergreifen unterschiedlicher Bereiche hinweisen. – Die Notizbücher, die er stets bei sich trägt, füllen sich. Alles was ihn umgibt, ist Anregung, wird durchdacht und nach seiner Gesetzmäßigkeit gesucht.
Leonardos Aufzeichnungen erschweren das Entziffern. Er notiert vieles in Spiegelschrift. Oft sprunghaft, ungeordnet, überhastet. Verständlich – bei seinem persönlichen Universum, das Himmel und Erde, Mensch und Tier umfasst. Doch weder Überlegungen noch Eindrücke durften verloren gehen. Und wo Wörter nicht ausreichen, ergänzen Zeichnungen. Es ist die Suche nach dem Allumfassenden. Nach dem Urgesetz. – Das Generalwerk über die Natur entsteht in der gedachten Weise nicht. Jedoch hinterließ Leonardo unzählige Beobachtungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen zur praktischen Nutzung auf Blättern und in seinen Notizbüchern. Der Themen sind viele. Was den Forscher von der Frühzeit an begleitet, ist der Traum vom Fliegen und die Vielgestalt des Wassers.
Der exakte Beobachter Leonardo, der im Wasser das Geheimnis des Lebens sieht, beschreibt jeden Vorgang des Elements bis in die Einzelheit. Manches mutet an wie die Aufstellung einer Versuchsreihe: „Was das Wasser macht, wenn es in einem ovalen Gefäß umgerührt wird, […] in einem eckigen Gefäß, […] wenn auf das Gefäß von der Seite her geschlagen wird, […] von unten her geschlagen wird.“ Die sachlichen Niederschriften holt oftmals die Fantasie des Künstlers, des Sinnenmenschen, ein. Um den unterschiedlichen Bewegungsformen des Wassers gerecht zu werden, stellt er ein Vokabular von zum Teil lautmalenden Begriffen und Wörtern zusammen. Er nennt neben anderem: Herabstürzen, gemächliches Fließen, Rückprall, Wälzungen, Niederprasseln, munteres Eilen, Wirbeln …
Die fesselnde Wirkung des Elements besteht für den Forscher in der Wandelbarkeit: „… gern steigt es bei Hitze als feiner Dampf in die Luft; die Kälte lässt es gefrieren, die Rast verderben.“ Steigen Dunst oder Nebel empor, so bilden sich feine Tröpfchen, „und in den verschiedenen Höhenlagen entsteht verschiedenerlei aus ihnen, das heißt entweder Wasser oder Schnee oder Hagel.“ Wer noch nicht weiß, wie sich ein Tropfen bildet, der erfährt es: „Ein Tropfen ist etwas, das sich nicht von der übrigen Wassermasse loslöst, außer wenn die Kraft seines Gewichts stärker ist als die Kraft des Zusammenhalts, der ihn mit dem übrigen Wasser verbindet.“ Und der Vorausdenker Leonardo bewegt sich in unmessbar kleinen Dimensionen: „Fällt ein Tropfen Wasser auf das Meer, wenn es ruhig ist, dann muss notwendigerweise die ganze Wasserfläche unmerklich steigen.“
Als gewissenhafter Forscher sucht Leonardo den Vergleich: Die Welle sei der Abdruck eines zurückprallenden Schlages: „… oftmals flieht (sie) vom Ort ihrer Entstehung, und das Wasser rührt sich nicht vom Fleck. Wie wenn im Mai die Winde über die Getreidefelder streichen, und man Wellen über das Land eilen sieht, während aber das Getreide an seinem Platz bleibt.“
Der Schritt vom Naturwissenschaftler zum Künstler ist gering. Denn für Leonardo da Vinci gilt, was er selbst postuliert: „Der Maler bemühe sich, universell zu sein.“ Nunmehr mit seinen grundlegenden Gedanken vertraut, erschließt sich dem Betrachter auf Zeichnungen und Gemälden eine zweite Ebene. „Mona Lisa“ lächelt vor einer bergigen Landschaft, in der sich ein Fluss schlängelt und in ferne Gewässer mündet. Die liebliche Gruppe der „Anna Selbdritt“ rahmen Berggipfel, zwischen denen dünne Dunstschleier ziehen. Die Füße der beiden Frauen ruhen auf vom Wasser geschliffenen Kieselsteinen. Gebirge, zarter Nebel, Wasser, in dem sich der Vordergrund spiegelt, gehören auch zur „Madonna in der Felsengrotte“. Auf der frühen Zeichnung einer Flusslandschaft aus dem Jahr 1473, die nur dem Wechselspiel des Wassers gewidmet ist, kehrt manches wieder, was Leonardo in seiner „64-Wörter-Sammlung“ aufführt: Aus einem Erdloch rinnt die Quelle, schwillt an, stürzt in die Tiefe, zwängt sich brausend durch eine Schlucht, fließt talwärts in munterer Eile und wird in der Ferne zum gemächlich strömenden Fluss.
„So fließt es hin und her, hinauf und hinunter; ohne Rast und Ruh kennt es keine Erquickung; […] bald verursacht es Tod, bald Leben; bald Schöpfung, bald Entbehrung; bald nährt es, bald macht es das Gegenteil; ewig wechselnd und nie beständig.“ Denn „mit der Zeit wandelt sich alles.“
Schlagwörter: Forscher, Leonardo da Vinci, Malerei, Naturwissenschaften, Renate Hoffmann