22. Jahrgang | Nummer 8 | 15. April 2019

Gaunerzinken

von Gerhard Jaap

Der Informationsverkehr unter Ganoven erfolgt oft über verabredete geheime Sprachen und Symbole – bis in die heutigen Tage. Berühmt wurden die „Gaunerzinken“, bekannt seit dem 16. Jahrhundert als ein geheime Verständigungszeichen der Missetäter, Landstreicher und Bettler. Die Namensgebung (aber erst ab dem 18. Jahrhundert so bezeichnet) beruht auf der Form der verwendeten graphischen Zeichen, die an Zacken oder Spitzen erinnern, was das Wort „zinke“ schon im Mittelhochdeutschen (hier: zinko) bedeutete. Eine große und dicke Nase eines Verbrechers könnte umgangssprachlich als Gaunerzinken bezeichnet werden, aber das ist eine andere Verwendung. Es sei aber darauf hingewiesen, dass der derbe Ausdruck „zinken“ für ein solches ins Auge springendes Gesichtsteil auch heute noch in aller Munde ist. Die hier gemeinten Gaunerzinken sind dagegen außerordentlich geheimnisvoll und schwer zu entschlüsseln. Sie erinnern oft an Bilderrätsel – wie die folgende Geschichte, von Hans Gross erzählt, beweist.
Es war einmal eine kleine und sehr alte Waldkapelle in der Steiermark, in der Nähe von Graz. Sie schlief dort viele Jahrzehnte in Ruhe und Frieden, aber dann geschah in ihrem Leben etwas Außergewöhnliches. Vor 130 oder 140 Jahren, die genaue Jahreszahl ist nicht überliefert, entdeckten einige Bürger am Gemäuer merkwürdige Zeichen: ein in einem Zuge gezeichneter Papagei, eine Kirche und ein Schlüssel, darunter drei Steine auf einem Strich und ein gewickeltes Kind. Sie informierten sofort die habsburgische Obrigkeit von diesem unerhörten Vorkommnis, die prompt Gendarmen und sogar einen Untersuchungsrichter zum Tatort schickte. Sie verstanden sich zwar von Berufs wegen auf Gaunerzinken, aber die liturgischen Aspekte des Kunstwerkes mussten sie sich von einem Pfarrer erklären lassen. Das Ergebnis ihrer Übersetzung war sodann verblüffend:
Der Papagei, der auf die Sprachfertigkeit des Herstellers anspielt, war das Markenzeichen eines bekannten Einbrechers. Kirche und Schlüssel bedeuteten, dass er in das Gotteshaus einbrechen wollte und Komplicen suchte. Die drei Steine auf dem Strich standen für das im alten steiermärkischen Bauernkalender zu findende Zeichen des heiligen Stephanus, der als Märtyrer gesteinigt wurde. Woraus zu entnehmen war, dass der Einbruch für den 26. Dezember geplant war. Das Wickelkind hingegen wies als Zeichen der Geburt des Heilands auf den 24. Dezember hin; an diesem Tag wollte man sich an besagter Stelle treffen, um den Coup zu verabreden.
Die Ordnungshüter legten sich auf die Lauer, und tatsächlich konnten am Weihnachtstag bei der Waldkapelle drei bekannte und berüchtigte Gauner festgenommen werden.
Hans Gross (1847–1915), der Begründer modernen Kriminalistik, hatte sich in seinem anno 1893 erschienenen bahnbrechendem „Handbuch für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen u.s.w.“ ausführlich mit dem Phänomen der Gaunerzinken beschäftigt, über das schon im 16. Jahrhundert die Obrigkeit berichtete. Im Zusammenhang mit der Verfolgung straff organisierter „Mordbrenner-Banden“ empörte man sich, diese Kriminellen hätten ein ganzes System von geheimen graphischen Zeichen zur Markierung oder zur Verständigung entwickelt.
Die Gaunerzinken hatten Hans Gross und seinen Forscherdrang ein ganzes Leben begleitet. Im berühmten, von ihm herausgegebenen Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik hatte er 1901 im Heft 6 vermerkt: „Nachrichten darüber, dass man sich in früherer Zeit, als die merkwürdigen Gaunerzinken noch häufig waren, um dieselben gekümmert hätte, sind spärlich vertreten.“ Mit Freude hatte er deshalb die „Beiträge zur Erleichterung des Gelingens der praktischen Polizei“ zur Kenntnis genommen, die von „Polizeirath“ Merker 1830 in Berlin gedruckt worden waren. Hierin waren Beschreibung und Abbildung von etwa 50 Gaunerzinken – alle in der Gross bekannten typischen Form. Daraus schloss er, dass Gaunerzinken international und verbreitet sind: „Pfeil, Signierung, Begleitung, Art der Zeichnung, alles stimmt mit jenen Zeichen überein, die wir aus den übrigen Gegenden von Deutschland und Oesterreich kennen und die jetzt, nach 70 Jahren genau so dargestellt werden, wie damals.“
In Berlin werden durch die Polizei, heute wie damals, derartige Zeichen an Hauswänden, Briefkästen, Klingelbrettern, Türzargen und Zäunen entdeckt, die in althergebrachter Weise von Einbrechern, Dieben und Trickbetrügern benutzt würden. Aber leider nicht immer richtig eingeschätzt.
Diplomkriminalist Harald Bröer vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) erfuhr kürzlich durch Informationsaustausch über eine lokale Internetseite von einem Fall aus Berlin-Wilhelmsruh. Gegen 20.30 Uhr beobachtete ein aufmerksamer Bürger durch Zufall, wie sich zwei Gestalten von der gegenüberliegenden Straßenseite mit einer UV-Taschenlampe, die die Richtung wies, seinem Wohnhaus näherten. Einer brachte mittels Lackstift Markierungen an den Briefkästen an, die nur mit UV-Licht zu erkennen waren – das Verbrechen geht immer mit dem technischen Fortschritt. Die Polizei wurde umgehend informiert und erschien am Tatort. Leider hatte der Wilhelmsruher das Gefühl, nicht wirklich ernst genommen zu werden. Die Beamten versuchten zu relativieren: Es seien nur Tags von „Graffitikünstlern“ …
Auch andere geheime Zeichen spielten in Kriminalfällen eine herausragende Rolle. Anfang vorigen Jahrhunderts stahl der Postobersekretär B. im süddeutschen Raum während der Dienstzeit 10.000 Reichsmark. Offenbar nicht geschickt genug, denn der Verdacht fiel relativ schnell auf ihn. Noch auf der Arbeitsstelle wurde er verhaftet. Am nächsten Tage besuchte ihn seine Ehefrau im Untersuchungsgefängnis. Als gelernte Telegraphistin beherrschte sie wie ihr Mann das Morsealphabet. Auf ihren Bluseneinsatz hatte sie mit Glasperlen und Stäbchen ein kurzes Telegramm in Morseschrift aufgenäht: „Ruhe, alles gut, Geld habe untergebracht, abwarten.“
Das Geld hatte vom Täter zu seiner Frau einen kuriosen Weg zurückgelegt. Der Postbeamte hatte es um den inwendigen Glasbehälter seiner Thermosflasche gelegt und die Flasche wieder zugeschraubt. Die Kriminalisten durchsuchten zwar den Dienstraum noch in Anwesenheit des B. gründlich, doch fanden sie die Scheine nicht. Das Behältnis wurde sogar von einem mitfühlenden Kollegen in B.s Aktentasche zur Ehefrau gebracht: „Schonend“ brachte er ihr die Verhaftung bei und übermittelte sein Mitgefühl ob dieses großen Justizirrtums.
Einen Fehler muss der Postobersekretär dann aber doch gemacht haben. Wahrscheinlich hatte er minutenlang auf die Perlen und Stäbchen gestiert, jedenfalls fiel es einem der Polizeibeamten auf, der seinem Chef den Verdacht mitteilte, und das Glasmuster auf der Bluse konnte dechiffriert werden. Pech für B., und nach kurzer Funkstille morste er ein volles Geständnis.