von Thomas Ruttig
Hubschrauber über der Stadt, leer gefegte Straßen und geschlossene Geschäfte. Schießereien, 18 Verletzte, darunter mindestens eine Zivilistin. Bewaffnete in Abwehrstellung auf Hausdächern am Wohnsitz des 2017 von Präsident Aschraf Ghani geschassten Provinzgouverneurs und starken Manns zumindest von Teilen Nord-Afghanistans, Atta Muhammad Nur. Die nordafghanische Metropole Masar-e Scharif – von der deutschen Bundesregierung gern als vergleichsweise stabil und sogenannte „Binnenfluchtalternative“ angepriesen – erlebte am vergangenen Donnerstag einen neuen Gewaltausbruch. Mit den Taleban hatte das im Übrigen nichts zu tun.
Was war passiert? Eigentlich nichts Besonderes: Der Präsident hatte einen neuen Polizeichef ernannt, aber Anhänger des bisherigen Amtsinhabers – der wiederum ein Gefolgsmann Attas ist – ließen ihn nicht ins Polizeihauptquartier. Atta hatte die Bevölkerung zu Widerstand aufgerufen und seine Bewaffneten mobilisiert, denn seiner Ansicht nach verletzte die Ernennung eine Abmachung, die er mit Ghani bei seiner eigenen Absetzung – wie gesagt 2017 ausgesprochen, aber erst 2018 umgesetzt – geschlossen hatte. Hier sein Tweet vom 13. März 2019: „Ich rufe alle Einwohner Masars auf, in ihren Häusern zu bleiben, Läden & Märkte müssen bis auf weiteres geschlossen gehalten werden. @ARG_AFG [d.h. „der Palast“] hat eine Verschwörung gegen uns angezettelt.“
Damals hatte Ghani, ebenfalls unter Androhung militärischer Rebellion, zugestehen müssen, dass nach Attas Absetzung dessen Leute wenigstens die Ämter des neuen Vizegouverneurs und des neuen Polizeichefs (sowie einige andere) behalten müssten. Zuvor hatte Atta seinen von Ghani ernannten Nachfolger kurzerhand festnehmen lassen
Diesmal schickte die Regierung Sondereinheiten, die dem neuen Polizeichef Oberst Abdul Rakib Mubares (vorher in gleicher Funktion in der Provinz Nimrus) gegen Attas Milizionäre – die formal eigentlich regierungstreu sind (so viel zu den alles andere als klaren Fronten in Afghanistan) – den Weg freikämpfen mussten. Ein paar von ihnen wurden festgenommen. Das dauerte ein paar Stunden, dann war die Szene bereit für die zeremonielle Amtseinführung: Platz nehmen im Amtssessel, flankiert von Bewaffneten in Helm und Tarnuniform, kurzes gemeinsames Gebet und ein paar martialische Worte: Jede Rebellion gegen die Regierung werde niedergeschlagen. In der Eile hatte man vergessen, das Namensschild des Vorgängers wegzuräumen.
Die Aktion erinnerte an das Vorgehen des damaligen Präsidenten Hamid Karsai gegen den damaligen Gouverneur und starken Mann West-Afghanistans, Ismail Khan. Auch Ismail Khan wollte nicht kampflos weichen, obwohl Karsai ihm sogar einen Kabinettsposten angeboten hatte, den zunächst Ismail Khans Sohn Mir Wais übernahm. Es kam zu Schießereien, bei denen Mir Wais ums Leben kam. Ismail ging schließlich trotzdem als Minister nach Kabul.
Debattiert wird nun in Afghanistan, ob Ghanis Austauschaktion wirklich notwendig war und überhaupt jetzt. Immerhin ist er der Präsident, sagen manche, und solche Ernennungen sind sein verfassungsmäßiges Recht. Aber vielleicht hätte das nicht jetzt sein müssen, halten andere dagegen, so kurz vor Naurus, dem persischen Neujahr, zu dem am 20. März Zehntausende zum Schrein Rausa-ye Ali nach Masar pilgern. Aber wann ist überhaupt ein „guter Zeitpunkt“, besonders für den zu kräftigen Worten und Gewaltdrohungen neigenden Atta. Der hätte wohl auch an jedem anderen Tag Stress gemacht. Und ist das nicht eigentlich Rebellion, da er ja nicht einmal ein offizielles Amt bekleidet, aber trotzdem Bewaffnete mobilisiert? Wieder andere Beobachter betrachteten die Neuernennung Mubares’ als Wahlmanöver Ghanis: Ein Polizeichef, dessen Leute ja die Wahlbüros schützen müssen, kann den Wahlausgang leicht beeinflussen – und es wäre auch nicht das erste Mal, dass so etwas geschieht.
Wie so oft in Afghanistan, ist all dies gleichzeitig richtig.
Auch USA-Botschafter John R. Bass in Kabul goss noch Öl ins Feuer, indem er beide Seiten aufrief, die Streitkräfte nicht für „politische Streitigkeiten“ einzusetzen. Stimmt eigentlich – allerdings ist Ghani wie gesagt der Präsident und ihr Oberbefehlshaber, er repräsentiert nicht nur irgendeine Fraktion, und seine Regierung wird eigentlich von den USA nicht nur gestützt. Washington sollte daran interessiert sein, das Gewaltmonopol dieser Regierung durchsetzen zu helfen (einer Regierung, die es schwer fällt zu verteidigen angesichts ihrer Korruption, Intransparenz, elitären Arroganz und oftmals gleichzeitigen Unfähigkeit).
Aber im Moment verhandeln eben auch die USA mit den Taleban unter Ausschluss der Ghani-Regierung, und die fühlt sich von Washington daher wohl nicht ganz zu Unrecht politisch an den Rand gedrängt. Das wiederum befördert politische Paranoia und manchmal Gesten politischen Größenwahns. Wie die Angriffe des afghanischen Sicherheitsberaters auf den Chefunterhändler der USA Khalilzad. Man würde sich wünschen, Ghani und seine Leute würden sich solche rhetorischen Floskeln verkneifen und endlich anfangen, beharrlich und planvoll konstruktiv zu arbeiten. Aber planvoll manipulativ ist einfacher, wie der Frauenratschlag kürzlich und die geplante Loja Dschirga zeigen. Letztere wurde gerade auf Ende April verschoben, weil man wieder einmal schneller gedacht hatte, als sich so etwas organisieren lässt.
Die (lange) Vorgeschichte
Die jüngsten Vorfälle in Masar haben eine längere Vorgeschichte. Als Ghani 2014 nach einer undurchsichtigen Wahl das Präsidentenamt übernahm, vereinbarte er mit seinem Gegner Dr. Abdullah, der dann in der Nationalen Einheitsregierung sein Koalitionspartner wurde, dass alle Provinzgouverneure ausgewechselt werden würden, vor allem jene, die schon sehr lange im Amt waren. Atta war am längsten im Amt, seit 2004. Aber er gehört auch zur selben Partei wie Abdullah, der früheren Mudschahedinpartei der Dschamiat-e Islami. Ghani wollte Abdullah und die Dschamiatis nicht erneut gegen sich aufbringen. Sie hatten sowieso schon genug Probleme miteinander. Der Präsident hob sich Atta daher bis zum Schluss auf. Das war also 2017.
Auch sind in Afghanistan einige Gouverneure gleicher als die anderen. Es gibt jene mit eigener – sprich bewaffneter – Machtbasis, und es gibt die von Ghani oder schon seinem Amtsvorgänger Karsai eingesetzten „Technokraten“. Am gleichesten war Atta, als Quasi-Warlord in Nord-Afghanistan. Lange stand er in der zweiten oder dritten Reihe – die zahlreichen Berichte von Menschenrechtsorganisationen über die blutigen 90er Jahre verzeichnen nicht einmal seinen Namen. Seine Stunde schlug im Jahr 2001. Protegiert von Dschamiati-Verteidigungsminister Marschall Fahim, war er inzwischen zum Kommandeur des örtlichen Armeekorps und damit zum wichtigsten regionalen Kommandeur der Dschamiat aufgestiegen, die in Nord-Afghanistan mit der Dschombesch von General Dostum konkurrierte und konkurriert. Schnell schlug die Konkurrenz in Gewalt um. Schon Anfang 2002 kam es in Masar-e Scharif zu Straßenkämpfen, mit allem, was beiden Seiten zur Verfügung stand, einschließlich Panzern und Raketenwerfern. Die UNO vermittelte (ich nahm damals daran teil), aber die Kämpfe flammten in den nächsten Monaten immer wieder auf.
Dostum, der in Masar zur Zeit der Talebanherrschaft noch lange unangefochten über eine Art Gegenregierung präsidiert hatte, unterlag schließlich. Er musste sich in sein Hauptquartier Schebarghan in der Erdgasprovinz Dschausdschan zurückziehen. Vergessen hat er das Atta nie, auch nicht seine Ambitionen auf die Kontrolle über Masar – selbst wenn beide zeitweilig gegen Ghani verbündet waren: Dostum, Ghanis Erster Vizepräsident, war in Ungnade gefallen, nachdem seine Leibwächter einen ehemaligen politischen Verbündeten misshandelt und sogar vergewaltigt hatten (das Opfer behauptet, auf Veranlassung Dostums), und landete im Quasi-Exil in der Türkei. Offiziell war er dort zur medizinischen Behandlung; Ghani hatte Erdogan überredet, sich Dostums anzunehmen. Er musste Erdogan dafür die Kontrolle über die beliebten türkischen Schulen in Afghanistan übereignen, die von einer Gülen-nahen Organisation verwaltet wurden. Auch dabei musste Ghani Polizei einsetzen, weil sich Lehrer und Eltern wiedersetzten.
Attas Macht wuchs. Er und seine Familie verdienten direkt oder indirekt mit an allen Geschäften, die in der Stadt und der Provinz Balch gemacht wurden. Schon 2011 zitierte ein örtlicher Journalist in einem Artikel für AAN die New York Times und einen weiteren in den USA erschienenen Bericht, wonach Atta „Interessen“ im Öl- und Holzhandel, in der Düngemittelproduktion sowie im Baugewerbe habe und in „fragwürdige“ Landgeschäfte verwickelt sei; was heißt, dass Regierungsland an privat verkauft wurde, um darauf Wohnungen zu bauen, zum Teil ganze neue Stadtteile, in denen dann auch vorwiegend Attas Anhänger angesiedelt wurden. Politische Opposition und mediale Kritik wurden weitgehend ausgeschaltet, durch Drohung oder Kauf. Der frühere Lehrer – daher sein Titel Ustad – und Sohn eines Teppichhändlers legte den traditionellen Schalwar-Kamis ab und trug nun, wie die Zeit schilderte, „maßgeschneiderten Anzug, handgenähte Lackschuhe, eine teure Uhr am Handgelenk“. Seinen Generalsrang – der höchste von vieren in Afghanistan – behielt Atta trotzdem. Sein Bart wurde kürzer und kürzer, sein Amtssitz prunkvoller und prunkvoller. Kamen offizielle Besucher, Diplomaten, waren stets sofort die Kameras seines von ihm finanzierten, inzwischen landesweit tätigen Haussenders Mitra TV zur Stelle.
Teile des gescheffelten Geldes ließ Atta in eine ausgedehnte Bautätigkeit fließen, die sich auch gut als Wohltätigkeit verkaufen ließ. Die Neue Zürcher Zeitung sprach von Regieren im „Mafiastil“. Er baute Denkmäler für die Helden der Geschichte Balchs und schrieb sich gleich selbst gleichrangig ein in diese Geschichte. Und er entwickelte sogar präsidiale Ambitionen.
Nach Attas Absetzung sperrte Ghani ihm dem Vernehmen nach einige Konten, was zu Engpässen in dessen finanziellen Möglichkeiten führte und wohl sogar Attas Präsidentschaftsambitionen für die Juliwahl 2019 beendete. Er befindet sich jedenfalls auf keinem der sogenannten Tickets, die aus dem Kandidaten und zwei Vizekandidaten bestehen, setzt aber auf Ghanis abtrünnigen ehemaligen Chefsicherheitsberater Hanif Atmar. Der stellte sich jetzt seinerseits hinter Atta: Das Vorgehen der Regierung verstärke die Instabilität.
Atta und die Bundesrepublik
Auch die deutschen Vertreter in Masar hofierten Atta lange. Seit 2006 gibt es dort ein Feldlager der Bundeswehr; inzwischen ist Deutschland von dort aus Leitnation des Nordabschnittes der Mission „Resolute Support“. Das blieb auch so, nachdem Atta nicht verhindert hatte, dass im April 2011 ein Mob das örtliche UNAMA-Büro stürmte und sieben Mitarbeiter ermordete. Gute Beziehungen zu ihm, so hoffte man, würde die Sicherheit der Bundeswehrsoldaten und der zivilen Vertreter von Auswärtigem Amt und Bundesministerium für Entwicklungszusammenarbeit (BMZ) verbessern, einschließlich des in Masar eingerichteten deutschen Generalkonsulats. Das änderte sich erst, nachdem Ende 2016 eine riesige Autobombe das Generalkonsulat verwüstet hatte. Deutsche Opfer gab es wohl keine, höchstens Verletzte, aber über 100 Afghanen starben oder wurden verletzt. Deutsche Vertreter warfen Atta vor, sie über die gefährliche Sicherheitslage im Unklaren gelassen zu haben.
Dabei hatte sich die Verschärfung angekündigt, nicht nur in Masar-e Scharif, sondern auch in der Provinz Balch, immer wieder unterstrichen durch meist kleinere Anschläge. Unmittelbar vor dem Anschlag auf das Konsulat häuften sich die Vorfälle:
Am 12. Oktober riss ein Anschlag auf eine schiitische Moschee während des Aschura-Feiertags 15 Menschen in den Tod. Am 9. August waren in Masar bei einem Selbstmordanschlag in einem belebten Basar ein Zivilist ums Leben gekommen und 14 weitere verwundet worden. Anfang Juni war der Polizeichef des nahen Distrikts Schulgar durch eine Sprengfalle ermordet worden. Im Mai kamen im Distrikt Kischinde neun Menschen ums Leben, als sich zwei Einheiten der milizähnlichen Lokalpolizei Schießereien lieferten. Und im März griffen die Taleban mit erbeuteten US-Humvee-Fahrzeugen mehrere Polizeiposten bei der zweitgrößten Stadt Cholm an.
Ausgangspunkt sind paschtunisch bewohnte Distrikte südlich von Masar; die unsicheren Gebiete erstrecken sich inzwischen bis an die unmittelbare Stadtgrenze. Dort okkupierten die Taleban im Oktober 2018 triumphierend eine ehemalige NATO-Basis. Der kommandierende Bundeswehrgeneral bestätigte diesen Trend im Oktober 2018 gegenüber der ARD für die weitere Regionen: „Von der Tendenz her muss ich leider sagen, dass die Intensität der Auseinandersetzungen hier im Norden zugenommen hat“, sagt der deutsche Brigadegeneral Gerhard Klaffus…
Parallel berichtete die ARD damals von einer ökonomischen Krise, von den „leeren Basare(n), auf denen kaum einer einkaufen geht, weil die Wirtschaft am Boden liegt.“
Im Juni 2018 berichteten Einwohner Masars von einer Zunahme gezielter Morde in der Stadt und einem Anstieg der Kriminalität. Von der Regierung geduldete bewaffnete Zivilisten – vom Schlage der Milizen Attas – würden für ein „Klima der Anarchie“ sorgen. In Nord-Afghanistan gebe es immer noch 350 illegale bewaffnete Gruppen, also nicht mit den Taleban verbundene Milizen.
Damit man sich aber auch kein zu gutes Bild vom Regierungsmilitär macht, folgendes: Dessen neuer Generalstabschef Generalleutnant Bismillah Wasiri – bis dahin Chef der Spezialeinheiten – rief seine Untergebenen kurz zuvor dazu auf, keine Taleban- oder IS-Gefangenen mehr zu bringen, weil die Armee sie nicht ernähren könne. Das kann man als Aufforderung lesen, „keine Gefangenen zu machen“ (also sie umzubringen) – vor allem, da 2014 schon der damalige (2018 ermordete) Polizeichef von Kandahar, General Rasek, seine Kämpfer aufgefordert hatte, Gefangene zu töten, weil „korrupte Gerichte“ sie sonst wieder laufen lassen würden.
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