22. Jahrgang | Nummer 7 | 1. April 2019

Mehr als eine Märchenoper

von Wolfgang Brauer

Am 11. Februar 1900 beschreibt die Wiener Kompositionsschülerin Alma Schindler ihren Lehrer: „Eine Karikatur – kinnlos, klein, mit herausquellenden Augen und einem zu verrückten Dirigieren.“ Zwei Wochen später: „Er ist furchtbar hässlich, hat fast kein Kinn – doch gefiel er mir ausnehmend. […] Er gefällt mir sehr – sehr. Ich werde ihn zu uns nach Hause bringen.“ Ein Jahr später: „Er sagte mir, dass ich mit ihm spiele und dass er Gott danke, dass er gescheit auf die Welt gekommen sei […] und wir küssten uns, dass die Zähne schmerzten.“ Im September will sie noch sein „Weihebecken“ sein: „Gieß deinen Überfluss in mich.“ Am 16. Dezember 1901 gibt sie ihm den Abschied und verlobt sich zwei Tage später mit Gustav Mahler.
Der fallengelassene Kompositionslehrer heißt Alexander von Zemlinsky.
1901 steht der vor einer glänzenden Kapellmeister- und Kompositionskarriere – Zemlinsky gehört zu den Künstlern, die in jenen großen Jahrzehnten der Wiener Kunst die Grenzen ihrer Gattungen austesten und wenn möglich durchbrechen wollen. Stark geprägt von der Spätromantik Gustav Mahlers – der hatte ihm nicht nur die Geliebte abgenommen, um den Hofoperndirektor kam in Wien auch niemand herum, der in der Donaumetropole seine Werke zur Aufführung bringen wollte – suchte Zemlinsky dennoch sein Komponieren bis zu den Grenzen der Atonalität zu treiben. Das gelang ihm nie. Den Durchbruch in die Moderne schaffte allerdings parallel zu den Bemühungen des Lehrers sein Schüler Arnold Schönberg – der auch sein Schwager wurde. 1905 wurden im Wiener Musikverein Schönbergs bombastisches Opus 5 „Pelleas und Melisande“ und Zemlinskys Fantasie für Orchester „Die Seejungfrau“ nach Hans Christian Andersen parallel uraufgeführt. Schönberg fiel durch – aber mit einem so gewaltigen Krach, dass Zemlinskys zauberhafte Komposition kaum Beachtung fand. Seine Zeit schien abgelaufen, noch ehe sie recht begonnen hatte.
Wundersamer Weise erweist sich aber das vom Umfang her nicht sehr gewaltige Werk des 1942 im New Yorker Exil gestorbenen Komponisten bei fast jedem Wiederzugriff als erstaunlich heutig. Am 24. März war das erst wieder in der Deutschen Oper Berlin zu erleben. Unter der musikalischen Leitung von Donald Runnicles brachte Tobias Kratzer Alexander von Zemlinskys Opern-Einakter „Der Zwerg“ (1922) zur Premiere. Kratzer erweist sich für das Haus an der Bismarckstraße als Glücksgriff. Sein „Rigoletto“ hatte schon 2008 in Graz Furore gemacht. Seitdem erbringt er immer wieder den Nachweis, dass sich Werktreue und kreative Regiearbeit an der Opernbühne mitnichten ausschließen müssen. Er inszeniert Zemlinskys musikalisch durchaus anspruchsvolles Werk – gerade die Titelpartie wurde von ihm gleichsam psychoanalytisch durchkomponiert – mit geradezu leicht erscheinender Hand.
Das Libretto der Oper schrieb Georg C. Klaren nach Oscar Wildes Märchen „Der Geburtstag der Infantin“ (1891). Die Infantin Donna Anna (mit kristallklarem Sopran: Ellena Tsallagova) wird 18. Das ungewöhnlichste Geschenk ist ein hässlicher Zwerg, ein begnadeter Musiker, der allerdings nichts von seiner Gestalt weiß. Er hat sich noch nie im Spiegel gesehen. Das Lachen der Hofgesellschaft bei seinem Erscheinen missdeutet er als Freundlichkeit. Natürlich verliebt er sich in die Prinzessin. Die treibt ihr Spiel mit ihm – nicht ohne vorher die Handys und Schminkspiegel ihrer Geburtstagsgäste einsammeln zu lassen. Als die Situation der jungen Frau zu brenzlig wird, befiehlt sie ihrer Zofe Ghita (Emily Magee), dem Zwerg seine wahre Gestalt klarzumachen. Ganz konsequent folgt die Katastrophe: Er wütet gegen sich selbst und stirbt. In der Oper wie auch im Märchen bejammert die Infantin ihr kaputt gegangenes Spielzeug. Ghita ist die Einzige, die in diesem bösen Spiel so etwas wie Herzenswärme zeigt: „Gott hat ein armes Herz zerbrochen. Es war schön.“ Emily Magee hat in diesem Moment die gewaltige Bühne de facto allein für sich. Das ist ganz große Oper!
Natürlich komponierte sich der keine 1,60 Meter große Zemlinsky mit diesem Werk das Alma-Schindler-Trauma von der Seele. Kratzer stellt dem Einakter Arnold Schönbergs „Begleitmusik zu einer Lichtspielscene für Orchester op. 34“ (1930) voran. In stark komprimierter und überhöhter Form lässt er vor den Zuschauern in einer pantomimischen Darstellung zur Musik die Schindler-Zemlinsky-Affaire vorführen. Artifiziell ist das interessant angerichtet, ein Pfund weniger Bedeutung hätte aber gut getan. Immerhin verzichtet man auf Kokoschkas „Windsbraut“ an der Wand … Den Voyeurismus auf die Künstler-Biographien sollte man nicht zu weit treiben – auch wenn er momentan wieder in Mode kommt.
Die zentrale Frage der Oper, die nach dem Verhältnis von Selbstbild einer Persönlichkeit und deren Wahrnehmung durch die anderen, bestimmt Tobias Kratzers Inszenierung so nachhaltig, dass jede zusätzliche Arabeske nur störend wirkte. Den Sängern wird von der Regie die Möglichkeit zu so nicht oft gesehener Entfaltung gegeben. Donald Runnicles äußerst zurückhaltende und sehr präzise Stabführung ist bemerkenswert. Das Orchester des Hauses, es hat ansonsten eine Vorliebe für Verdi-Wagnersche Fülle, verblüfft durch fein ziseliertes Musizieren. Das Zwischenspiel zwischen der ersten und zweiten Szene (dem Auftritt des Zwerges) kommt mit großer Zartheit aus dem Graben.
Einen geradezu genialen Einfall hatte Tobias Kratzer, als er die Partie des Zwerges in zwei Rollen teilte: Der kleinwüchsige Schauspieler Mick Morris Mehnert gibt den Zwerg als Darsteller, den Gesangspart übernimmt der sängerisch herausragende britische Tenor David Butt Philipp. Natürlich entgeht die Regie damit den Peinlichkeiten, die das „Auf Zwerg“-Trimmen eines mit durchschnittlicher Körpergröße versehenen Sängers immer mit sich bringt. Andererseits ist es von großer Spannung zu sehen, wie der anfangs das Spiel Mehnerts scheinbar nur musikalisch kommentierende Philipp im Laufe des Geschehens mehr und mehr zur „zweiten Persönlichkeit“ des Zwerges wird. Das Tragisch-Gespaltene dieser Figur kommt durch die Interaktion der beiden Künstler auf eine Weise zum Tragen, wie es anders wohl kaum darstellbar wäre.
Der Berliner Opernlandschaft tut dieser Farbtupfer ausgesprochen gut. Alexander von Zemlinsky und sein Librettist werfen nicht zuletzt die Frage nach dem menschlichen Kaufpreis auf, den eine Gesellschaft zu zahlen bereit ist, die als höchsten aller offiziellen Werte den „Spaß“ postuliert. Die Antwort, die Tobias Kratzer und die unter seiner Regie arbeitenden Künstlerinnen und Künstler geben, ist verstörend.
Der geradezu frenetische Schlussapplaus war berechtigt und der Rezensent bedauert sehr, dass diese Inszenierung nur noch wenige Male in dieser Spielzeit zu erleben sein wird. Ein ganz besonderes Erlebnis sind übrigens die Damen des Chores, die auf überzeugende Weise einen auf Girlie machen. Einfach herrlich!

Wieder am 7. und am 12. April.