22. Jahrgang | Nummer 5 | 4. März 2019

Eine andere Meinung

von Jürgen Leibiger

Wenn ich in meinen Vorlesungen zur Volkswirtschaftslehre auf die unterschiedlichen Sichtweisen von neoklassischer und keynesianischer Lehre zu sprechen komme, empfehle ich den Studierenden immer einen Blick in die Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Seit 2004 stieß man dort in jedem Jahr unter der Überschrift „Eine andere Meinung“ – die es auch früher schon gab – zumeist mehrfach auf den Satz: „Ein Mitglied des Rates, Peter Bofinger, vertritt zu den Analysen und Vorschlägen dieses Kapitels eine andere Meinung.“ Dann folgten einige Seiten, in denen Bofinger eine Alternative entwickelt. Die anderen vier Mitglieder des Rates waren überwiegend einer Meinung, nur Bofinger tanzte aus der Reihe und wurde nicht müde, gegen den Strom zu schwimmen. Ein notorischer Querulant?
Peter Bofingers Mitgliedschaft im „Rat der fünf Weisen“ endete in diesem Februar. Seit 15 Jahren war der Würzburger Professor Mitglied und schied jetzt turnusgemäß aus. Er wurde damals vom Bundespräsidenten auf den Vorschlag der Regierung hin in den Rat berufen. Sie folgte damit einer Empfehlung der Gewerkschaften. Die anderen Mitglieder werden in der Regel von arbeitgebernahen Kreisen und Verbänden empfohlen. Diese Quote ist zu einer Art Gewohnheitsrecht geworden; alle Regierungen und Bundespräsidenten haben sich daran gehalten. Bofinger ist im Unterschied zum neoklassischen Mainstream deutscher Volkswirte bekennender Keynesianer; er beruft sich zwar nicht nur, aber auch auf den britischen Jahrhundert-Ökonomen John M. Keynes (1883–1946). Etwa zum Zeitpunkt seiner Berufung veranstalteten die Financial Times Deutschland und der Verein für Socialpolitik, die deutsche Ökonomenvereinigung, eine Umfrage, in denen sich ganze 14,3 Prozent der 551 Wirtschaftswissenschaftler, die auf die Fragen antworteten, keynesianischen Schulen zuordneten. Die Mehrheit kreuzte Denkschulen an, die neoliberalen und neoklassischen Paradigmen folgten. Zum Marxismus/Sozialismus bekannten sich 1,4 Prozent der Antwortenden. Auf die Frage, ob die Macht der Gewerkschaften eingeschränkt werden solle, antworteten 68,3 Prozent mit „ja“.
Bofinger hatte also den zu erwartenden schweren Stand. Er ließ sich jedoch nicht beirren; weder im Sachverständigenrat noch außerhalb hielt er mit seiner „abweichenden Meinung“ hinter dem Berg. Selbst als ihn seine Ratskolleginnen und -kollegen vor zwei Jahren in einem Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wegen seines Plädoyers für eine aktiven Industriepolitik ziemlich rüde attackierten und Zweifel an seiner Professionalität äußerten, blieb er gelassen und wiederholte seine Meinung im jüngsten Jahresgutachten.
Ein Dauerthema in diesem Zwist war und ist auch die Schuldenbremse, die verfassungsrechtliche Beschränkung kreditfinanzierter staatlichen Ausgaben, die „schwarze Null“. Dagegen hatte er 2009 vor der Abstimmung im Bundestag gemeinsam mit Gustav Horn vom gewerkschaftlichen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) einen öffentlichen Aufruf initiiert. Es hat nichts genützt, die Mehrheit in Wissenschaft und Politik setzte eine Grundgesetzänderung durch, die den im Jahr 1969 auch mit Unterstützung des damaligen Sachverständigenrates aufgenommenen Artikel 109 zum Defizit Spending zugunsten der Schuldenbremse strich.
Im jüngsten Jahresgutachten 2018/2019 des Sachverständigenrates kritisierte Bofinger nicht nur die ablehnende Haltung seiner Kolleginnen und Kollegen zur Industriepolitik, sondern auch deren Auffassung zur Geld- und Fiskalpolitik im Euro-Raum, zur Banken- und Kapitalmarktunion und zum internationalen Steuerwettbewerb. Bofinger hatte sich nie den kritischen und ablehnenden Meinungen zur Geldpolitik der Europäischen Zentralbank angeschlossen, die wegen der Zinssenkungen und der Bilanzausweitung das Inflationsgespenst an die Wand malten. Und bislang hat er auch Recht behalten. Statt Inflation überwog in Europa lange Zeit eher Deflation, weil entgegen der vorherrschenden Theorie die aufgrund schwachen Lohnwachstums verhaltene Nachfrageentwicklung das Wachstum der Preise zügelte. Statt der von der Rats-Mehrheit favorisierten Austeritätspolitik hat Bofinger deshalb eine Steigerung der Investitionsausgaben des Staates gefordert. Und schon immer hat er die Forderung abgelehnt, Deutschland müsse sich den „Herausforderungen des internationalen Steuerwettbewerbs“ stellen, was im Klartext weitere Steuersenkungen für die Unternehmen mit der Konsequenz eines race to the bottom bedeutet.
Bofinger, der in diesem Jahr 65 wird, dürfte nach seinem Ausscheiden aus dem Rat zwar kaum weniger kritisch auftreten, eine vergleichbare öffentliche Wahrnehmung ist jedoch schwierig. Sein Nachfolger wird Professor Achim Truger von der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht. Truger war zuvor beim gewerkschaftlichen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) und am IMK tätig; dort ist er noch immer Senior Research Fellow. Die Empfehlung des DGB, Truger in den Sachverständigenrat zu berufen, war äußerst kontrovers diskutiert worden; teilweise wurden sogar Zweifel an seiner Expertise gesät. Natürlich spielen dabei ideologische Vorbehalte seiner Gegner eine Rolle, aber seine arbeitnehmernahen und keynesianisch geprägten Vorgänger stießen auf keine ähnliche Ablehnung. Und tatsächlich ist seine Publikationsliste überschaubar und in der jüngsten Rangliste deutschsprachiger Ökonomen, in der Bofinger auf Platz 8 der am häufigsten in Politik, Medien und Wissenschaft Genannten steht, taucht er gar nicht auf. Warum haben die Gewerkschaften keinen anderen, ihnen nahestehenden renommierten Wissenschaftler empfohlen, um den zu erwartenden Einwänden zuvorzukommen? Ganz einfach: Arbeitnehmernahe und keynesianisch geprägte Wirtschaftswissenschaftler haben an deutschen Universitäten kaum eine Chance auf Berufung und dementsprechend sind auch die Gutachtergremien der Wissenschaftsjournale und Verlage besetzt; das Feld wird von neoliberal und neoklassisch orientierten Seilschaften beherrscht. So hat Truger jetzt die Chance, einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen, dass auch außerhalb des universitären Mainstreams in der arbeitnehmerorientierten Wissenschaft Expertise und Kompetenz vorhanden sind. Er kann dabei Bofingers ziemlich großen Fußstapfen folgen.