von Mathias Iven
In der Vergangenheit tauchte der Name Julia Mann zwar an der einen oder anderen Stelle auf, doch selbst in einem Buch mit dem beziehungsreichen Titel Die Frauen der Familie Mann suchte man einen Beitrag über sie vergebens. Eine Biographie war also längst überfällig. Denn was wären Thomas und Heinrich Mann ohne ihre Mutter? Diese Frage stellte sich auch Dagmar von Gersdorff, die bereits ein Dutzend sehr erfolgreicher Lebensbeschreibungen bedeutender literarischer und historischer Persönlichkeiten vorgelegt hat.
Julia da Silva-Bruhns, so die Überlieferung, kam am 14. August 1851 „unter Palmen“ zur Welt. Ihr Vater Johann Ludwig Hermann Bruhns stammte aus einer traditionsreichen Lübecker Handelsfamilie. Ursprünglich sollte er die vom Großvater gegründete Firma übernehmen, doch der abenteuerlustige Junge hatte andere Pläne. Als er neunzehn war heuerte er auf einem französischen Segler an und floh nach Brasilien, in das Land seiner Sehnsucht. Im Februar 1847 heiratete er Maria Luiza da Silva, die Tochter eines seiner begüterten Handelspartner. Nicht einmal ein Jahrzehnt währte ihr Glück. 1856, bei der Geburt des sechsten Kindes, starb die Mutter. Zwei Jahre darauf bestiegen Ludwig Bruhns und seine Kinder ein französisches Segelschiff und verließen Südamerika. Acht Wochen dauerte die Überfahrt nach Europa. In Le Havre ging es von Bord. Von dort reiste man mit einem Dampfer weiter nach Hamburg, wo eine Postkutsche gemietet wurde. Das Ziel hieß Lübeck.
Die Zeit verging, Julia wuchs heran. Noch nicht achtzehnjährig heiratete sie am 4. Juni 1869 den elf Jahre älteren Kaufmann und späteren Senator Thomas Johann Heinrich Mann. Sie gehörte nunmehr zur patrizischen Oberschicht der alten Hansestadt. Im neuerrichteten Stadtpalais veranstaltete sie Konzertabende, bei denen sie als Solistin auftrat. „Das Klavierspiel“, so Dagmar von Gersdorff, „stellte für sie eine innere Heimat dar, einen Fluchtort, an den sie sich zurückziehen und den ihr niemand verbieten konnte.“ Musik und Literatur – die „Frau aus der Fremde“ verbreitete mit ihren künstlerischen Ambitionen im Hause Mann ein bis dato ungekanntes Lebensgefühl.
In den Lübecker Nachrichten fand sich zwei Jahre nach der Hochzeit die Mitteilung: „Durch die Geburt eines Sohnes sind erfreut Heinrich Mann und Frau geb. Bruhns.“ Fünf Kinder brachte Julia Mann zur Welt: drei Söhne und zwei Töchter. 1871 wurde Heinrich geboren, vier Jahre danach Thomas. Julia, von allen nur Lula genannt, folgte 1877. Carla erblickte 1881 das Licht der Welt und Viktor 1890.
Am 13. Oktober 1891, mit nur 51 Jahren, starb Senator Mann. Die ärztliche Diagnose lautete: Blasenkrebs. Vollkommen unerklärlich für die Familie hatte er testamentarisch verfügt, dass das seit 1882 als Firmensitz und Wohnhaus genutzte Gebäude in der Beckergrube verkauft werden sollte. Zunächst blieb Julia Mann mit ihren Kindern noch in Lübeck. Doch im Frühjahr 1893 verließ sie die Stadt und zog nach München. Ein Ortswechsel, der nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Kinder nachhaltig prägen sollte.
Heute wissen wir, so Dagmar von Gersdorff: Julia Manns „Anteil am Schaffen der genialen Söhne ist bedeutend; beide haben von ihrer südländischen Wesensart, ihrer leidenschaftlichen Musikalität, den poetischen Erzählungen und mündlichen Berichten auf vielfache Weise profitiert“. Schon im Dezember 1930 hatte Thomas Mann in der Illustrierten Leipziger Zeitung erklärt: „Ihr verdanke ich eine nie verlorene Vertrautheit mit diesem vielleicht herrlichsten Gebiet deutscher Kunstpflege [gemeint war die Musik – M.I.)], einer Kultur für sich, in der Tat, in der ein Meister dem anderen den goldenen Ball zuwirft.“
In seinem Nekrolog für die 1923 im bayrischen Weßling Verstorbene betonte Ludwig Ewers: „Senatorin Mann war einst die schönste Frau Lübecks und noch in vorgerückten Jahren mit dem welligen weißen Haar und der aufrechten schlanken Gestalt eine wundervolle Erscheinung.“ Thomas Mann dankte dem Schriftstellerkollegen für dessen „erinnerungsvollen Nachruf“. Weiter schrieb er: „Der Todesgedanke war ihr seit langem vertraut; ich glaube, daß sie in tiefster Seele müde war. Sie hat uns Geschwistern Abschiedsbriefe hinterlassen, die vor ihrer Erkrankung geschrieben sind, und aus denen ihre Mutterliebe mit ergreifender Innigkeit hervorleuchtet.“ Und in einem Brief an seinen Freund Ernst Bertram war zu lesen: „Ich glaube nicht, daß ich in meinem Leben schon einmal so traurig gewesen bin.“
Dagmar von Gersdorffs Buch ist mehr als nur eine Biographie. Es ist eine Familiengeschichte, die zugleich ein Wegweiser durch das Werk der Söhne ist, die ihrer Mutter mit ihren Romanheldinnen ein unvergängliches Denkmal setzten.
Dagmar von Gersdorff: Julia Mann. Die Mutter von Heinrich und Thomas Mann, Insel Verlag, Berlin 2018, 336 Seiten, 24,00 Euro.
Schlagwörter: Dagmar von Gersdorff, Heinrich Mann, Julia Mann, Mathias Iven, Thomas Mann