22. Jahrgang | Nummer 6 | 18. März 2019

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

Ohne Zweifel sind wir nicht von Europa zu trennen […]
Dmitri Medwedjew,
russischer Regierungschef

Europa, das ist im allgemeinen politischen Sprachgebrauch des Westens das Synonym für EU- und NATO-Europa. Als mitgerechnet betrachten dürfen sich noch Staaten wie Schweden, Finnland oder die Schweiz, die zwar nicht der NATO angehören, doch mehr oder weniger intensiv mit ihr verbunden sind. Nicht aber Russland.
Dieses Teil-Europa – Deutschland mittendrin –, so befinden hiesige Politiker und Leitmedien bereits seit geraumer Zeit, steckt ziemlich in der Bredouille. Wenn man dem Spiegel glaubt, hängt das vornehmlich mit Donald Trump zusammen. „Kein vernünftiger Mensch jenseits unserer öffentlichen Verlautbarungen glaubt, dass Trump Seattle für Riga opfern wird“, zitiert das Magazin einen hochrangigen deutschen Diplomaten, der seinen Namen wegen einer Binsenwahrheit, deren offenes Aussprechen tabu ist, besser nicht in der Presse lesen will. Man sei andererseits aber, so das Blatt weiter, „militärisch von den USA abhängig, auf die konventionellen Streitkräfte der Amerikaner und auf die nukleare Abschreckung [angewiesen]. Es gibt, bis  auf Weiteres, keine Alternative zum Bündnis, die Europas Sicherheit garantieren könnte. Das ist, wenn man es zu Ende denkt, eine ziemlich beunruhigende Analyse.“
Daraus folgt für Christiane Hoffmann, die Autorin des betreffenden Beitrages, „ein gigantisches Projekt“: „Europa muss konventionell aufrüsten und über nukleare Abschreckung nachdenken, es muss die Deutschen und andere dazu bringen, mehr für Verteidigung auszugeben, es muss klären, welche Rolle die Briten künftig für die Sicherheit spielen, die Osteuropäer schützen, […] es muss sich mit Cyberangriffen, hybrider Kriegsführung und autonomen Waffensystemen auseinandersetzen.“
Zwar kommt bei Hoffmann auch der Halbsatz vor, dass das von ihr gemeinte Europa auch „ein eigenständiges Verhältnis zu Russland“ im Auge haben solle, aber ihre Diktion und ihr gesamter Beitrag lassen wenig Zweifel daran, dass die anderen genannten Punkte vor allem wegen und gegen Russland realisiert werden sollen, dass es in erster Linie um Sicherheit vor Russland geht, um Ausgrenzung und Abschreckung Moskaus.
Experten wie Michael Stürmer, einst Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik, der Denkfabrik der Bundesregierung, warnen jedoch grundsätzlich, „dass ohne die USA in definierten Positionen und Stärken europäische Sicherheit gegenüber den Erben der Sowjetunion nicht zu haben ist“.
Und der frühere Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (CDU) preschte in dieser Gesamtdebatte noch mit einem besonderen Punkt vor, der vielleicht selbst bei unseren französischen, polnischen und anderen Nachbarn nicht auf gänzlich ungeteilte Zustimmung stoßen dürfte: „Wenn wir es künftig ernst meinen mit der Aufgabenteilung in Europa, dann muss die Bundeswehr zur stärksten konventionellen Streitmacht Europas werden, nicht nur auf dem Papier, sondern faktisch.“
Wie meinte Christiane Hoffmann doch? „Das ist, wenn man es zu Ende denkt, eine ziemlich beunruhigende Analyse.“ Denn man braucht sich nur einmal vorzustellen, wie die Lage wäre, wenn die Teil-Europäer auch nur einen weiteren ordentlichen konventionellen und atomaren Rüstungsschub auf die Reihe brächten und Russland dabei – asymmetrisch, wenn die Führung klug ist und sich nicht noch einmal totrüsten lassen will – mitzöge: Das Niveau der militärischen Konfrontation würde angehoben mit der Konsequenz, dass im Falle eines Versagens der Abschreckung und einer von Experten erwarteten Eskalation der Kriegführung auf die atomare Ebene gegenseitige Vernichtung nur umso wahrscheinlicher wäre. Eine solche Situation im Ergebnis eines Gelingens des Hoffmannschen gigantischen Plans als Zugewinn an Sicherheit zu interpretieren, bedürfte es schon eines außergewöhnlichen Maßes an Chuzpe.
Man kann es wenden, wie man will, man landet immer wieder beim selben Dreh- und Angelpunkt: Die Sicherheit EU- und NATO-Europas ohne Einbeziehung Russlands zu denken und gegen Russland gewährleisten und stärken zu wollen, gleicht dem Versuch der Quadratur des Kreises. Militärisch gilt dies mindestens, solange Moskau eine nukleare Supermacht ist und im gegenseitigen Verhältnis Konfrontation statt Kooperation vorherrscht.
Man kann das Verhältnis zwischen EU- sowie NATO-Europa und Russland im Übrigen durchaus auch undramatischer betrachten, wie Erhard Eppler dies unlängst getan hat, und zu einem vergleichbaren Ergebnis kommen: „Für einen Donald Trump gibt es in der Politik nichts gratis. Wer Schutz will, muss mit Gehorsam bezahlen. Wenn die Europäer zu dem Ergebnis kommen, so habe man nicht gewettet, dann müssen sie versuchen, ihr Verhältnis zu dem Staat zu verbessern, vor dem sich viele – keineswegs alle – Europäer fürchten: Russland. Manche Mitglieder der Europäischen Union pflegen traditionell gute Beziehungen zu Russland, unabhängig von dem, was man die Außenbeziehungen der Europäischen Union nennen könnte. Sollen sie zu einer Partnerschaft zuerst einmal auf dem Gebiet der Wirtschaft ausgebaut werden, müssen Frankreich, Deutschland und wohl auch Italien und Spanien mitspieIen. Und die skeptischen Länder, zumal Polen, müssen davon profitieren.“
Frieden mit Russland bedeutet laut Eppler „Entwicklungspartnerschaft, Kennenlernen, Jugendaustausch, Kulturaustausch, Überwindung von Klischees, nicht Militärbündnis“. Folgte man dieser Definition, so wäre da Etliches, womit man sofort beginnen könnte.
Zu rechnen ist damit leider bis  auf Weiteres allerdings nicht. Gerade erst hat das EU-Parlament laut RadioFreeEurope / RadioLiberty „mit überwältigender Mehrheit“ einen Bericht gebilligt, der feststellt, „dass Russland ‚nicht länger als strategischer Partner betrachtet werden kann‘“.

*

Apropos Militärbündnis: Vor kurzem erinnerte Horst Teltschik, gegen Ende des Kalten Krieges engster außenpolitischer Berater von Kanzler Helmut Kohl, im Interview mit dem Spiegel daran, dass US-Präsident Bill Clinton seinem damaligen russischen Pendant Boris Jelzin „in einem Gespräch und schriftlich angeboten [habe], Mitglied der Nato zu werden“. Teltschik weiter: „möglicherweise hätte Putin innerhalb der Nato einen konstruktiveren Kurs verfolgt.“
Daraufhin dieser Wortwechsel:
Spiegel: Es ist […] abwegig. Die Nato versteht sich als Wertegemeinschaft.
Teltschik: (lacht) Genau, deswegen haben wir die Türkei dabei.
Und bereits seit dem 4. April 1949 dabei hatte man Portugal unter dem semifaschistischen Salazar-Regime. Ab 21. April 1967 kamen die griechischen Obristen hinzu, die die demokratisch gewählte Regierung in Athen weggeputscht hatten. Für welche Werte die USA gerade stehen, weiß man gar nicht so genau, aber dass es allgemein-westliche Werte sein könnten, ist kaum zu vermuten.
Leider ist den betreffenden Kollegen vom Spiegel offenbar jedes Gespür dafür abhandengekommen, wie dümmlich sie sich selbst durch ihren hochnäsigen Einwand dastehen lassen. Es sei denn, man unterstellte den Vorsatz, dass das Publikum für dumm verkauft werden soll.