22. Jahrgang | Nummer 7 | 1. April 2019

Das Haus der Regierung

von Alfons Markuske

„Tatsächlich ist es ein Buch
des absoluten und brutalen Irrsinns […].“

Fabian Wolff
Die Welt

Diese Publikation des in der Sowjetunion gebürtigen US-amerikanischen Historikers Yuri Slezkine ist als Buch (1138 Seiten, knapp 120 davon Apparat, vornehmlich Quellenangaben) ein ebensolcher Trumm wie – zur Zeit seiner Errichtung – jener Gebäudekomplex, der dem Werk den Namen gab: „Das Haus der Regierung“. Doch dazu später.
Slezkine nennt das Buch eine Saga, und tatsächlich liest es sich überwiegend wie eine ebenso intime wie enorm verzweigte Familiengeschichte – nämlich jene der ersten Generation russischer Bolschewiki, die später als Alt-Bolschewiki apostrophiert wurden und deren prominenteste wie auch heute weniger geläufigen Köpfe fast durchweg dem Stalinschen Großen Terror in den 1930er Jahren, euphemistisch Säuberungen genannt, zum Opfer fielen. Über deren Herkunft und persönliche wie politische Werdegänge, ihre Träume und ihr Denken, ihre Ehepartner, Kinder, Freunde und Geliebten, ihre politischen Auseinandersetzungen mit ihresgleichen sowie ihr Wirken vor und nach der Oktoberrevolution hat Slezkine in der von ihm dargebotenen Fülle an Details bisher in dieser Vollständigkeit und Verknüpfung untereinander nie zu lesende Biographien zusammengetragen. Darunter die des Vaters des Schriftstellers Juri Trifonow, eines hohen Nomenklaturkaders, der für sich und seine Familie eine Wohnung in jenem Haus zugewiesen bekam. Juri Trifonow selbst nannte seinen Roman über seine Kindheit in diesem bolschewistischen Biotop, den einzigen in der (späten) Sowjetunion je zu diesem Sujet erschienenen, „Das Haus an der Uferstraße“. Darinnen war vieles, was Slezkine jetzt anhand von Fakten und Dokumenten ausführlich ausbreitet, dennoch eher nur angedeutet und zwischen den Zeilen zu finden.
Wobei Sleskines unermüdliche Fülle in ihren Aneinanderreihungen von immer noch einem Schicksal oder Beispiel mehr als einmal auch ziemlich ermüdende Ausmaße annimmt.
Das Ganze ist penibel recherchiert und belegt, so dass des Autors wissenschaftlicher Anspruch – „Dies ist ein historisches Werk.“ (vorangestellte Widmung) – nicht im Widerspruch zur Genrebezeichnung Saga steht.
Im Zentrum des Werkes allerdings steht Slezkines ideengeschichtliche Analyse und Einordnung der Bolschewiki, geprägt von einer religiösen Auslegung des Marxismus wie des Leninismus. Nach Sleskine waren die Bolschewiki „millenaristische Sektierer“, also eine apokalyptische, messianische, endzeitliche Gruppe, die er in eine Kontinuitätslinie stellt, die von Moses über Jesus und Mohammed bis zu Marx (kein Utopist, sondern ein Prophet!) reicht. Seine diesbezügliche These entwickelt Slezkine in einem allein über 50 Seiten langen Kapitel („Der Glaube“) mit spürbarem Furor, der ihn gleichwohl ein Detail unter den Tisch fallen lässt, dass dann vielleicht doch den entscheidenden Unterschied ausmacht: Während das Christentum und die anderen von Sleskine angeführten Glaubensgemeinschaften zwar den Untergang der Welt prophezeiten, diesen aber in die Hand eines allmächtigen Erlösers legten, während sie ihren Anhängern predigten, in der Zeit bis dahin keinesfalls die Hand gegen die Obrigkeit zu erheben, sondern sich besser in Gebeten zu ergehen und gottgefällige Werken zu tun, hatten die Bolschewiki mitnichten das Ende der Welt vor Augen, sondern lediglich die Apokalypse für deren kapitalistische Ausprägung. Und ihr „Evangelium“ war ein ausgemacht aktives – darauf ausgerichtet, die Sache in die eigenen Hände zu nehmen: durch gezielte Vorbereitung einer sozialen Revolution mittels Agitation der unterdrückten Massen und durch Schaffung einer Partei neuen Typs aus Berufsrevolutionären. Letztere sollte in der Lage sein, sich bei Ausbruch einer entsprechenden Staatskrise – Lenin sprach von revolutionärer Situation (die oben können nicht mehr wie bisher, die unten wollen nicht mehr wie bisher und die Volksmassen werden auf geschichtsrelevante Weise aktiv) – an die Spitze einer aufständischen Bewegung zu setzen und den Umsturz der bestehenden Ordnung herbeizuführen. Dass nach der russischen Februarrevolution von 1917 den Bolschewiki dann ein couragierter Coup d’état und etwas Glück genügten, um dieses Resultat tatsächlich herbeizuführen, mag man getrost als Ironie der Geschichte ansehen.
Auch Slezkines Ranking ist partiell zu widersprechen: „Verglichen mit anderen, ähnlich verbindlichen Sekten sind die Bolschewiki in ihrem Erfolg wie in ihrem Scheitern bemerkenswert.“ Verglichen mit der staatlichen Machtbeteiligung und auch alleinigen Ausübung derselben, der das Christentum seit Kaiser Konstantin, also seit über 1700 Jahren, teilhaftig wurde, und verglichen mit den dabei global kumulierten Gräueln bleiben die Bolschewiki zwar durchaus „bemerkenswert“, sind aber nicht die weltgeschichtliche Singularität, als die sie bei Sleskine erscheinen. Für die betroffenen Generationen im Machtbereich der Bolschewiki allerdings kam es tatsächlich erst nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1942 noch schlimmer als zuvor, und für alle Generationen seit 1917 währte das Experiment in jedem Fall zu lange …
Am bedrückendsten in Slezkines Buch sind die Kapitel über die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und die Periode der großen „Säuberungen“, die nach der Ermordung Kirows am 1. Dezember 1934 einsetzten und sich bis 1938 hinzogen – Zeiten, in denen es zu tödlichen Hungersnöten in bis dato unvorstellbarem Ausmaß kam und Massenexekutionen sowie -deportationen nach vorgegebenen Quoten erfolgten, die teilweise noch „übererfüllt“ wurden. Dadurch verlor zum Beispiel Kasachstan nach „Schätzungen aufgrund amtlicher Statistiken […] von 1929 bis 1933 durch Tod oder Auswanderung“ 2,3 Millionen Menschen. Und in den Operationen „gegen Kulaken und antisowjetische Elemente von August 1937 bis November 1938“ sowie gegen nichtrussische Nationalitäten wurden über 630.000 Todesurteile überwiegend von oberster Stelle administrativ angeordnet und gegen die Familienangehörigen der Opfer wurde häufig Lagerhaft (zehn Jahre waren das Einheitsmaß) oder Verbannung verhängt.
Das Purgatorium endete „ohne offizielle Ankündigung oder Erklärung“ in der zweiten Novemberhälfte 1938. Der „letzte Akt […] der Vernichtungsorgie“, so Sleskine, „war die Liquidierung ihrer Organisatoren“ (ebenda), die der Autor ebenfalls minutiös dokumentiert. Keine Erwähnung ist ihm dabei allerdings der Sachverhalt wert, dass die nach Hunderten, wenn nicht Tausenden zählenden weitgehend namenlosen Henker, die Erschießungen rein physisch, häufig wie am Fließband, vornahmen, sowohl damals, als auch nach Stalins Tod völlig unbehelligt blieben und ihr Leben sowie ihre Karrieren fortsetzten. Lediglich der Name des „prominentesten“ dieser Schlächter, Wassili Blochin, „Chef des NKWD-Exekutionskommandos“, findet sich in einem Halbsatz bei Slezkine. Blochin wird die Erschießung der in Ungnade gefallenen NKWD-Chefs Jagoda und Jeschow sowie die von bekannten Intellektuellen und Künstlern wie des Schriftstellere Isaak Babel, des Regisseurs Wsewolod Meyerhold und des Journalisten Michail Kolzow nachgesagt sowie später zahlloser kriegsgefangener polnischer Offiziere und Intellektueller. Blochin brachte es bis zum Generalmajor.
Apropos Kolzow: Das Todesurteil gegen den national wie international bekannten und geschätzten Journalisten wurde von Stalin am 17. Januar 1940 unterzeichnet – „auf einer Liste mit […] 345 weiteren Personen“.
Merkwürdig, nicht nur angesichts der Fülle des in diesem Buch durchgängig ausgebreiteten Materials, sind Fehlstellen oder gezielte Auslassungen Slezkines.
So findet der Kronstädter Matrosenaufstand von 1921, eines der entscheidenden Ereignisse im nachrevolutionären Sowjetrussland und zugleich der Vorbote des späteren Stalinschen Terrors gegen eigene Führungskader und andere innergesellschaftliche Zielgruppen, bei Slezkine nicht statt.
Ein weiteres Beispiel betrifft die sehr detaillierte Darstellung des Wirkens und des Schicksals von Kolzow. Sein denunziatorisches Verdikt in der Prawda gegen den im März 1938 nach Todesurteil erschossenen Bucharin – den „Liebling der Revolution“ (Lenin) – lag ganz auf der offiziellen Linie: „Der erbärmliche Versuch des doppelzüngigen, verbrecherischen Mörders Bucharin, sich als ‚Ideologe‘ darzustellen, der sich in theoretische Fehler verstrickte, ist hoffnungslos. […] Er wird es nicht schaffen, die volle Verantwortung für eine Serie monströser Verbrechen abzuwälzen. Er wird seine kleinen akademischen Hände nicht reinwaschen können. Diese kleinen Hände sind blutbefleckt. Sie sind die Hände eines Mörders.“ Das bewahrte Kolzow nicht davor, im Dezember 1938 selbst inhaftiert und später ebenso erschossen zu werden. Doch es fehlt bei Sleskine eine Episode, die für Kolzows Schicksal mitentscheidend gewesen sein dürfte: seine Rolle bei der Organisation und Durchführung des Ersten Internationalen Schriftstellerkongresses 1935 in Paris. Von Seiten weit über ihre Landesgrenzen hinaus renommierter französischer Literaten wie André Gide und André Malraux war im Vorfeld ultimativ die Teilnahme von Isaak Babel und Boris Pasternak gefordert worden, was Stalin als Erpressung empfand, der er jedoch nachgeben musste, um die Abhaltung des Kongresses nicht zu gefährden. Ähnlich verhielt es sich mit der auf dem Kongress von Gide und anderen erhobenen Forderung, den in der UdSSR seit 1933 in der Verbannung befindlichen Schriftsteller Victor Serge frei sowie ausreisen zu lassen. Kolzow hatte in beiden Fällen aus Stalinscher Sicht erfolglos agiert.
Auch im Fall Serge gab Stalin bekanntlich nach, und zwar im Vorfeld von Gides großer Informationsreise in die UdSSR im Jahre 1936, von der er wirkungsvolle prosowjetische Propaganda im Westen erwartete – ein Kalkül, dass vollständig in die Hose ging, wie Gides noch im gleichen Jahr publizierter Bericht „Zurück aus Sowjetrussland“ offenbarte. Noch zu Beginn der Reise hatte Gide in einer Rede bei Gorkis Trauerfeier auf dem Roten Platz in Moskau erklärt: „In unserem Geist ist das Los der Kultur mit dem Schicksal der UdSSR fest verbunden. Wir werden sie verteidigen.“ Doch sein abschließendes, völlig desillusioniertes Fazit lautete schließlich: „Die Diktatur des Proletariats hat man uns versprochen. Wir sind weit von diesem Ziel entfernt. Ja: eine Diktatur haben wir zweifellos; aber die eines Mannes, nicht mehr die der vereinigten Proletarier, der Sowjets. Es kommt darauf an, sich nichts vorzumachen; wir müssen ganz klar erkennen: Das haben wir nicht gewollt. Noch einen Schritt weiter, und wir müssen sogar eingestehen: Es ist genau das, was wir nicht gewollt haben.“
Was nun den Gebäudekomplex Haus der Regierung – vis-à-vis dem Kreml, am anderen Ufer der Moskwa – anbetrifft, so hieß der offiziell „Haus des Exekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare“. Dieser Terminus technicus setzte sich im allgemeinen Sprachgebrauch jedoch nicht durch.
Aus der Taufe gehoben wurde das Projekt eines Wohnkomplexes für die bolschewistische Nomenklatura und Auserwählte wie etwa Schriftsteller und andere Künstler, die bis dato in Hotels und Palästen nächtigten (400), im Januar 1927. Aus bescheideneren Anfängen mauserte es sich zu einem Ensemble aus sieben zusammenhängenden Wohngebäuden mit bis zu elf Stockwerken und 507 vollmöblierten Wohnungen mit bis zu sieben Zimmern mit für die Zeit modernster Ausstattung: Küche mit Gasherd und Kühlfach, WC, Badezimmer mit heißem Wasser und Dusche, Zentralheizung, Müllschlucker … Nicht wenige Wohnungen verfügten überdies über Kammern für Hausbedienstete. Die Wohnflächen insgesamt summierten sich auf über 42.000 Quadratmeter. Hinzu kamen – auf weiteren Nutzflächen von zusammen knapp 12.000 Quadratmetern – „Gemeinschaftseinrichtungen wie Kantine, Lebensmittelladen, Ambulanz, Kindertagesstätte, Friseursalon, Post, Telegraphenamt, Bank, Sporthalle, Wäscherei, Bibliothek, Tennisplatz und [mit] mehreren Dutzend Räumen für die verschiedensten Aktivitäten (von Billard und Scheibenschießen bis Malen und Orchesterproben)“ sowie ein Theater für 1300 Zuschauer und ein Stoßarbeiter-Kino für 1500 Zuschauer.
Das Außergewöhnliche an diesen Lebensbedingungen war, so Sleskine, „wie außergewöhnlich sie nach sowjetischen Standards“ der damaligen Zeit waren. Während Normalbürger in Städten (bereits seit dem 19. Jahrhundert) in der Regel zu mehreren Parteien, die sich Küche und Sanitäreinrichtungen teilen mussten, in hochgradig überbelegten Gemeinschaftswohnungen, sogenannten Kommunalkas, lebten – natürlich ohne die gerade erwähnten Gemeinschaftseinrichtungen von Kantine bis Tennisplatz –, waren im Haus der Regierung Drei- bis Sechs-Zimmer-Wohnungen für eine Partei der Standard. Auch wenn zu diesem Luxus nach Sleskine durchaus Belegungen wie diese gehörten: „Arkadi Rosengolz, der […] Volkskommissar für Außenhandel, […] zog in eine große Wohnung im zehnten Stock […] (Whg. 237, in Treppenhaus 12). […] Zu seiner Familie […] zählten seine neue Frau, ihre beiden Töchter, […] die Mutter und der Bruder seiner Frau, einer seiner Brüder, seine Schwester Eva […], Evas Tochter Jelena, geboren 1928, und die Magd ‚Dunjascha‘.“
Die anfänglich geplanten Baukosten für das Haus der Regierung in Höhe von drei Millionen Rubeln verzehnfachten sich im Laufe der Fertigstellung. Für die war der 13. Jahrestag der Oktoberrevolution im November 1930 anvisiert, doch der war nicht zu halten. Letzte Außenarbeiten zogen sich bis 1933 hin.
1935 hatte das Haus 2655 registrierte Bewohner, etwa 700 davon Staats- und Parteifunktionäre, denen die Wohnungen je nach Rang und Bedeutung zugewiesen wurden. Zwischen 600 und 800 Bedienstete standen den Bewohnern zur Verfügung und kümmerten sich um den Unterhalt der Gebäude.
Ein Unterpfand für ein unbehelligtes Leben aber war im Komfort des Hauses der Regierung nicht eingeschlossen: In den 1930er und 1940er Jahren wurden etwa 800 der Bewohner und eine unbekannte Anzahl von Beschäftigten Opfer Stalinistischer Willkürmaßnahmen. „Von 344 […] weiß man, dass sie erschossen wurden […].“

Nachbemerkung: In der DDR kursierte übrigens das ironische Bonmot, dass der Marxismus-Leninismus auch nur eine Religion sei, denn, so wurde rhetorisch gefragt, worin beständen die drei Hauptmerkmale einer Religion? Antwort: „Heilige Namen, heilige Schriften, heilige Orte.“
Ein Witz von zugegebenermaßen moderater Subversivität, denn er wurde zwar nur hinter vorgehaltener Hand erzählt, aber das im Wesentlichen unter guten Genossen.

Yuri Slezkine: Das Haus der Regierung. Eine Saga der russischen Revolution, Carl Hanser Verlag, München 2018, 1338 Seiten, 49,00 Euro.