22. Jahrgang | Nummer 5 | 4. März 2019

Besuch auf dem Brocken

von Renate Hoffmann

In Wernigerode, am Fuße des Brockenberges, spürt man den Frühling. Gäste sitzen im Freien vor den Cafés, und in den Gärten recken sich die Frühblüher. – Es waren besondere Wünsche, die mich zu Norddeutschlands höchstem Berg trieben. Goethe und Heine wollte ich begegnen, den alpinen Brockengarten besichtigen; das betagte „Wolkenhäuschen“ sehen und die Wetterwarte. Bei Hermann Löns (1866–1914), dem Journalisten und Schriftsteller, der sich im Sommer 1907 in Wernigerode aufhielt und den Ort auszeichnend „Bunte Stadt am Harz“ nannte, hatte ich gelesen: „Seitdem die Bahn geht, kann jeder Asphalttrotter auf den Brocken gehen.“ Ich zähle mich dazu und nahm sie.
Zehn Meter blauer Himmel und in Abständen feines Geniesel. Die Harzer Schmalspurbahn dampft, schnauft, schuckelt, ruckelt die 19-Kilometer-Strecke hinauf zum „altdeutschen Riesengreis“. In Drei-Annen-Hohne wandelt sich das Geniesel in weißes Geriesel. Schnee liegt auf und unter den „Brockenfichten“. Schluchten, Täler, Ortschaften, enge Kurven. Höher und höher. Die Bahn ist ein bautechnisches Meisterwerk. Bis sie im März 1899 mit drei Wagen, gezogen von einer Mallet-Lokomotive (Spezial-Dampflok für kurvenreiche Bergstrecken) Fahrt aufnehmen konnte, waren beachtliche Höhenunterschiede zu überwinden, Moore trockenzulegen, Felsklippen zu sprengen.
Schierke-Hochharz, gleichmäßiger, stiller Flockenfall und tiefverschneite Landschaft. Nebel kommt auf und verdichtet sich. Ich bin in einen der über 300 Nebeltage hier oben geraten. Im Brockenbahnhof mache ich die nächste meteorologische Erfahrung. Der Berg gilt als der windigste seiner Art in deutschen Landen. Demnach ein „Mont Ventoux“ auf fremdem Boden. Der eisige Sturm peitscht Schnee ins Gesicht, als wolle er zur Umkehr zwingen. Kaum vorstellbar, dass man an nebelfreien Tagen etwa 200 Kilometer in die Runde blicken könne. Meine Wünsche schwinden sämtlich dahin.
Zum Museum im Brockenhaus. Der Weg dorthin ist ein Gang ins Ungewisse, geleitet von Stimmen aus dem Nebel. Die Situation gleicht der Beschreibung von Eduard Nehse, der im Jahr 1834 die Wirtschaft auf dem Brocken übernahm: „Fürchterlich ist öfters das Wetter in den Wintermonaten; wirbelnde Schneemassen verdicken und verfinstern die Luft, nicht möglich ist es, einen Schritt vor sich zu sehen.“ Ich hätte eben den Rat des Johann Royer, eines bekannten Gärtners des 17. Jahrhunderts, befolgen sollen, der 1651 warnte: „Dieser Berg […] kan über etliche Meilen gesehen / aber nicht eher als umb S. Johannis Babtisae (24. Juni – R.H.) erstiegen und besichtiget werden / der Kälte und des Schnees halber.“
Man staunt, wen es vor Zeiten schon hinauf zog zum unwirtlichen „Vater Brocken“ und aus welchen Beweggründen. Waren es Wissensdrang, unterlegt mit mystischen Erwägungen – dunkle Wälder, Moore, die „grausame Höhe“; die ungewöhnlichen Naturerscheinungen, Forschergeist und Wanderlust? Von der Mystik abgesehen, gelten diese Triebfedern noch heute.
Je mehr sich die Neugierigen dem Gipfel näherten, desto wichtiger wurden Unterkünfte. Nehse schrieb aus Erfahrung: „Gräßlich ist das Brausen und Heulen des Sturmes […] und wehe dem, den ein solches Wetter überfällt, und der nicht bald einen bergenden Ort findet.“
Der Eigner des Berges Graf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode ließ dieserhalb im Jahr 1736 für waghalsige Wanderer auf dem Berggipfel ein bescheidenes, kleines Steinhaus bauen. Quadratisch und mit vierseitigem Holzdach. Mauerlücken, durch die der Wind pfiff, verstopfte man mit Moos. Das „Wolkenhäuschen“. Nomen est omen. Goethe soll bei seinem Brockenbesuch im Dezember 1777 darin gerastet haben, wahrscheinlich zum Aufwärmen. Natürlich machte er auch ein Gedicht: „Dem Geier gleich, / Der auf schweren Morgenwolken / Mit sanftem Fittich ruhend / Nach Beute schaut, / Schwebe mein Lied. …“ („Harzreise im Winter“) – Das „Wolkenhäuschen“, der Erstling auf dem Berge, hielt sich wacker. Mal abgebrannt, mal von Sturm und Schnee geschüttelt, im April 1945 bei einem amerikanischen Luftangriff schwer getroffen und 1954 wieder aufgerichtet. Am ehrenvollen Relikt aus früheren Tagen steht nun ein Gedenkstein mit Herrn Goethes Profil – an sein Hiersein erinnernd.
Möglichkeiten zu Rast und Verköstigung gab es südöstlich vom Brocken auf der Heinrichshöhe. Und 1800 stand auf dem Gipfel, unfern vom „winzigen Häuslein“, das Brockenhaus. Massiv gebaut, wohl ausgestattet und mit einem zehn Meter hohen, in das Gebäude einbezogenen Aussichtsturm. – Die Jahre forderten Um- und Ausbauten und Wiederaufbauten nach Bränden und Witterungsschäden. Die Geschichte des Brockenhauses endete mit dem Bombardement von 1945. Das Brockenhotel hat sich nun im ehemaligen Fernsehturm eingerichtet. Mit wunderbaren Aussichten ins Land (an nebelfreien Tagen!).
Goethe und der Brocken. Man denkt an Faust, die Walpurgisnacht („Harzgebirg. Gegend zwischen Schierke und Elend“, Faust I) und das Hexen-Einmaleins. – Der Berg ließ ihn nicht los. Dreimal ging er hinauf. Einkehr nahm er 1783 und 1784 in der Herberge auf der Heinrichshöhe. Bei seinem letzten Besuch schrieb er dort ins Gästebuch: „Wär nicht das Auge sonnenhaft / Wie könnt’ es Göttliches erblicken / Wär nicht in uns des Gottes eigne Kraft / Wie könnt’ uns Göttliches entzücken? d. 4. Sept. 1784 Goethe“.
Die erste Brockenwanderung hinterließ bei dem Achtundzwanzigjährigen den tiefsten Eindruck. Goethe kam von Altenau am 10. Dezember nach dem Torfhaus zum Förster Degen. Der riet wegen Nebel und Schnee von einer Brockenbesteigung ab. Goethe: „Ich war still und bat die Götter, das Herz dieses Menschen zu wenden und das Wetter.“ Auf Goethe hörten sogar die Götter. Das Wetter besserte sich. Gegen 10 Uhr brachen die beiden auf und etwa 13.15 standen sie auf dem Gipfel. Nach kurzem Aufenthalt und einem Gewaltmarsch trafen die Wanderer gegen 16 Uhr wieder im Torfhaus ein.
Heinrich Heine verließ 1824 Göttingen, um den Harz zu durchwandern. Er ging von Goslar aus zum hohen Berge und übernachtete im Haus auf dem Gipfel. „In der Tat, wenn man die obere Hälfte des Brockens besteigt, kann man sich nicht erwehren, an die ergötzlichen Blocksbergsgeschichten zu denken und besonders an die […] deutsche Nationaltragödie vom Doktor Faust. […] es ist ein äußerst erschöpfender Weg, und ich war froh, als ich endlich das langersehnte Brockenhaus zu Gesicht bekam. […] Die Mauern sind erstaunlich dick, wegen des Windes und der Kälte im Winter; das Dach ist niedrig, in der Mitte desselben steht eine turmartige Warte.“
Ich folgte 1990 den Spuren beider Dichter. Der Anblick des Brockenplateaus war gespenstisch. Eine 3,60 Meter hohe und 1,56 Kilometer lange Betonmauer umgab das Gelände, zwei Durchgänge konnten passiert werden. Durch das Ausgangsloch verließ ich die Festung. Mauer und hohe Metallzäune begleiteten den Hirtenstieg talwärts.
Der Brocken lag nach dem Zweiten Weltkrieg an der Staatsgrenze und wurde in der Folge Grenzschutzgebiet und militärische Sperrzone. Installation von Radarüberwachungsanlagen, Abhörkuppeln, und 1985 ein Neubau für die Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Am 3. Dezember 1989 war der Spuk vorbei.
Aus dem ehemaligen Gebäude des MfS entstand nunmehr, nach entsprechenden Umbauten, das „Nationalpark-Besucherzentrum Brockenhaus“. Hier erfahre und sehe ich, was ich in Nebel und Schneegestöber nicht sah. Wissens- und Anschauenswertes, verteilt auf drei Etagen. – Hexenwahn und Gruselgeschichten; vom Brockengespenst, das keines ist, sondern eine wetterbedingte optische Erscheinung. Über bedeutende Besucher des Berges (außer Goethe und Heine); Wetter- und Klimabeobachtungen; und was im 1890 eingerichteten Brockengarten wächst, blüht und gedeiht. Der Nationalpark Harz wird umfassend vorgestellt, mitsamt Vogelrufen und knarrenden Bäumen und Bertolt Brechts Meinung: „Weißt du was ein Wald ist? / Ist ein Wald etwa nur / Zehntausend Klafter Holz? / Oder ist er eine grüne Menschenfreude?“ – Auch an die dunklen Tage wird erinnert; und der Streit um die Höhe des Berges salomonisch geschlichtet: topografisch beträgt sie 1141,2 m ü. NHN und touristisch geduldet bleibt sie bei 1142 Metern.
Dämmerung. Der Wind hat sich gelegt. Der Schnee knirscht. Und irgendwo im Weltall bewegt sich der Planetoid „Brocken“ auf seiner Umlaufbahn.