von Wladislaw Hedeler
Als Nikita Afanasjew 1982 geboren wurde, traf ich in Moskau ein, um an der Promotion zu arbeiten. 1985 fuhr ich, um viele Erfahrungen reicher, in die DDR zurück. Was sich in der Sowjetunion abzeichnete, als das Kommen und Gehen der Generalsekretäre mit Michail Gorbatschows Amtsantritt endete, ließ hoffen. Doch dann nahm Boris Jelzin das Ruder in die Hand. Was damals einsetzte, bezeichnen Russen oft als eine Zeit der Wirren.
Ein Grund für Nikitas Eltern, beide Ingenieure, den Ausreiseantrag zu stellen. Seine Mutter war Deutsche, sie verließ Tscheljabinsk mit ihren zwei Kindern am 25. Juli 1993 in Richtung Bundesrepublik. 1995 traf der Vater in Recklinghausen ein. Aber wirklich angekommen ist er genaugenommen nicht. Nach 20 Jahren Aufenthalt im Ruhrgebiet brachte er es auf den Punkt: „Ich wohne hier nicht. Ich halte mich hier auf.“ Was er früher verfluchte, begann er nun zu glorifizieren. Auch die Mutter gab zu, dass dieses Deutschland nie zu ihrem Deutschland geworden ist. Im Unterschied zum Vater fiel dem Sohn die Integration nicht schwer. Das Talent zum Schreiben hatte er von ihm geerbt, nach dem Studium fand er als Journalist Arbeit.
Die Last der Sorge um die Familie lag auf den Schultern der Mutter. Hilfe fand sie bei ihrer Mutter und ihren zwei Schwestern, die schon vor ihr „nach Hause zurückgekehrt“ waren. Eine für Auswanderer typische, aber für den Jungen schwer auszuhaltende Situation. Immer wieder Streit mit dem Vater, Generations- und Ost-West-Konflikt in der Endlosschleife. Alle redeten aneinander vorbei. Im Sommer 2016 beschloss Nikita, sich auf die Suche nach dem Land seines Vaters zu begeben, um die Eltern besser zu verstehen. Das auch er Probleme haben würde, wurde ihm erst während der Reise bewusst: Ob als russischer Deutscher oder Deutschrusse, er hatte stets das Gefühl, immer auf der anderen Seite zu stehen, zwischen den Fronten eingequetscht zu sein.
Er flog zunächst auf die Krim, dann nach weiter nach Moskau. Die Stationen der Reise nach Tscheljabinsk sind schnell aufgezählt: Uglitsch, Schelanger, Kasan. Dann fuhr er weiter nach Omsk, Nowosibirsk, Jekaterinburg, Wladiwostok. Mit Ausnahme von Tschernobyl sind es Orte, an denen Bekannte seiner Eltern leben. Nikita beschreibt gewöhnliche Schicksale gewöhnlicher Menschen, die im Land geblieben sind und den Westen nur vom Hörensagen kennen.
Was wäre aus ihm geworden, wenn die Eltern geblieben wären? Eine Antwort fällt Nikita dazu nicht ein. Er kommt ins Grübeln, als einer seiner Freunde bemerkt, dass alle verloren haben, sowohl die, die weggegangen sind, als auch die, die blieben: „Zusammen wären wir stärker gewesen.“ Für ein Fazit ist es ihm noch zu früh. Dafür kommen seine Gesprächspartner zu Wort. Russland lebt, so sagen die einen, parallel zu seiner Vergangenheit weiter. Andere sehen ein Land mit einer ungeheuren Energie und Putin-Zitaten am Wegesrand. Was neben der Kirche funktioniert, kommt als Privatwirtschaft daher oder gedeiht in kommunistischen Enklaven. „Wir leben hier nicht, wir überleben“, hörte er auf seiner Zugfahrt durch ein müde gewordenes Land, das sich bemüht, eine wertekonservative Version des Westens zu werden. Die Menschen, denen er begegnete, sind auf der Suche nach Antworten. In einem Land, „das mit seinen schieren Ausmaßen alle üblichen Denkformate sprengt“ keine einfache Sache. Es lohnt, ihren Fragen nachzugehen. Allen die sich für Russland interessieren, oder vorhaben, das Land zu bereisen, sei das Buch zur Lektüre empfohlen.
Nikita Afanasjew: König, Krim & Kasatschok. Auf der Suche nach dem Russland meines Vaters, btb, München 2018, 249 Seiten, 16,00 Euro.
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