22. Jahrgang | Sonderausgabe | 25. Februar 2019

Wenn die Neugier nicht wär

von Siegfried Fischer

Ich habe schon lange nicht mehr ein solch faszinierendes Buch gelesen. Kein Thriller und kein historischer Gesellschaftsroman, sondern eine Gesellschaftsanalyse der besonderen Art.
Sie erhält ihre Wucht aus fünf Momenten.
1. Die persönliche Betroffenheit. Sowohl der Autor als auch ich haben Jahrzehnte in diesem Analyseobjekt, dem praktizierten Sozialismus, gelebt, seinen fortschrittlichen Anspruch verteidigt, ihn versucht zu interpretieren und zunehmend auch zu hinterfragen, seine Implosion erlebt und überlebt. Ich bin überzeugt, dass es noch genügend Zeitzeugen gibt, die wie wir wissen wollen, was mit uns allen passiert ist und die dem Autor mit der gleichen Neugier folgen, mit der er dieses spannende Buch geschrieben hat. Das Buch wird allerdings ein weiteres Ärgernis für diejenigen sein, die nur an egoistischen Rechtfertigungen für ihr freiwillig-aufgezwungenes Leben im und mit dem paradoxen Sozialismus interessiert sind. Insofern hat Ulrich Knappe Mut, dieses immer noch heisse Eisen anzufassen.
2. Die Einladung zur Teilhabe am analytischen, suchenden Denken. In einer Welt der alles- und besserwissenden Autoren mit ihren fertigen Thesen und Stories taucht ein Autor auf, der seine Leser in sein Denklabor einlädt, der den praktischen Sozialismus unter Anwendung der Marxschen Methode erforschen will, weil der sowjetische und chinesische Sozialismusentwurf in seinem Wesen noch nicht aufgearbeitet ist und vieles, was uns heute in der theoretischen Aufarbeitung vorgesetzt wird, alter moralinsaurer Wein aus neuen Schläuchen ist. Ulrich Knappe macht sich mit dieser mutigen Einladung verwundbar, weil er nicht darauf hoffen kann, dass ihm alle, an die er sich richtet, in diese Mischung aus Methodologie, Faktizität und Logik folgen werden können oder wollen.
3. Das Bekenntnis zur eigenen Unvollkommenheit. Es gibt nur wenige Autoren in den Sozialwissenschaften, die den Mut haben, so wie Ulrich Knappe, sich auch zu den noch nicht gelösten oder analysierten Fragen zu bekennen. Das ist beste deutsche philosophische Tradition. Ebenso finden sich in dieser sehr persönlichen Art der Darstellung durchaus Verknappungen, die nicht dem Namen Knappe geschuldet sind. Aber selbst, wenn nicht alles bis ins letzte Detail schlüssig ist und wenn sich die Feinheiten der Methodologie manchem Leser verweigern, so bleibt eine faszinierend komprimierte historische Gesellschaftsdarstellung der sowjetischen und chinesischen Sozialismuspraxis in ihrer Gegenüberstellung und Verflechtung mit der westlich-kapitalistischen Wirklichkeit. Die diesem Herangehen geschuldeten Wiederholungen historischer Vorgänge unter immer wieder neuen methodologischen Axiomen sind für mich kein Mangel, sondern begrüßenswerter sanfter Zwang, der Geschichte immer wieder „aufs Maul zu schauen“.
4. Das Hilfsangebot an die vielen tausend Suchenden, die in der vergangenen und gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung Humanismus und Solidarität vermissen. Ulrich Knappe möchte weder jemanden zum Sozialismus bekehren noch ihm davon abraten. Alles, was er will ist: „Macht Euch selbst ein Bild und erkennt, wie weit die vorhandenen (positiven und negativen) Vorstellungen von der Wirklichkeit abgewichen sind (abweichen).“ Er nimmt niemandem die Arbeit ab, sondern zeigt in atemberaubender Schärfe, wie man dieses große historische Paradoxon Sozialismus ökonomisch in seiner Zwiespältigkeit von Fortschritt und Rückschritt und in seiner blutigen, gewaltstrotzenden Inhumanität begreifen kann. Das reicht aus, um ernsthafte Zweifel zu bekunden, ob man jemals „zu einer neuen, humanistische(re)n und solidarisch(er)en Gesellschaft Sozialismus sagen wird“. So wie Ulrich Knappe glaube auch ich das kaum. Warum sollte man auch?
5. Die Entideologisierung des Weltfriedens. Indem Ulrich Knappe das ökonomische Wesen des Sozialismus mit Hilfe der Marxschen Gesellschaftsanalyse entziffert, legt er das Beil an eine weitere ideologische Schimäre – die behauptete Einheit von Sozialismus und Frieden. Woher sollte die auch kommen, wenn der praktizierte Sozialismus lediglich im Turboverfahren eine andere „kapitalistische“ Eigentumsform als die privatkapitalistische, nämlich das als gesellschaftliches Eigentum verpackte und deklarierte Kollektiveigentum einer oligarchisch strukturierten Staatsbürokratie schafft. Beiden Gesellschaftsformen liegt die Wertform der Ware zu Grunde und in beiden wählt die jeweils herrschende Klasse in Folge innergesellschaftlicher Entwicklungen mit Hilfe des Primats der Politik zwischen Krieg und Frieden. Wenn am Ende des Zweiten Weltkrieges und zu Beginn des Kalten Krieges die Sowjetunion und die USA in ihrer sozialökonomischen Struktur gar nicht so weit auseinander liegen, und zur Planung greifen, um US-seitig das „überkochende“ Gesellschaftssystem zu retten und sowjetseitig ihr Gesellschaftssystem zu errichten, dann stärkt das auf beiden Seiten einen militärökonomischen Komplex, der schlussendlich mit der Nuklearwaffenproduktion den Weltfrieden durch die Weltvernichtung bedroht und den Weltkrieg als ergebnisorientierte Fortsetzung der Politik ad absurdum führt. In beiden Gesellschaftssystemen hat man lange gebraucht, um das zu erkennen und die Gefahr politisch einzudämmen. Der paradoxe Sozialismus hat diesen Frieden des Kalten Krieges in dieser bipolaren Welt mitgestaltet, nicht aber verursacht. Das entlastet die andere Seite nicht, denn in beiden sind Gewalt und Krieg als außerökonomische Potenz nicht verfemt. Erst der Untergang der Sowjetunion liefert den praktischen Beweis für das Zurückbleiben der Gewalt als gesellschaftlicher Gestaltungskraft hinter anderen weniger gewaltsamen Formen. Und der Übergang des Krieges in seine nukleare weltvernichtende Dimension macht sein Verbot zur wichtigsten Aufgabe aller politikgestaltenden Kräfte in allen Gesellschaftsformen.
Letzteres erscheint mir umso wichtiger, weil in der neuen Multipolarität der Welt eine chinesisch-amerikanische Bipolarität entsteht, die mit einer antipodischen Ideologisierung auf beiden Seiten einhergeht. Wohin das führen kann, haben wir erlebt und überlebt. Ulrich Knappe legt den Finger in diese immer noch offene Wunde der beiden Gesellschaftssysteme, die sich im sozialökonomischen Wesen gleichen und zwei Seiten einer Medaille sind. Und er macht das in einer Art, die die Aufmerksamkeit und die Bewunderung seines Mutes durch seine Leser mehr als verdient.

Ulrich Knappe: Über paradoxen Sozialismus, Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 2018, 286 Seiten, 51,95 Euro.