von Bernhard Romeike
Schulpolitiker in Nordrhein-Westfalen diskutieren gerade, an den Grundschulen das Erlernen der englischen Sprache abzuschaffen und durch Türkisch zu ersetzen. Das wird die Weltläufigkeit der Kinder mit Migrationshintergrund gewiss verbessern! Oder auch nicht. Sevim Dagdelen widersprach dem vehement. Der Vorschlag sei „grober Unfug“. Den Unterricht in Weltsprachen wie Englisch oder Französisch durch Türkisch ersetzen zu wollen, komme einer Provinzialisierung gleich, „ist eine Absage an eine weltoffene Orientierung und würde die Bildungschancen von Kindern deutlich vermindern“. Die stellvertretende Vorsitzende der Linken-Fraktion im Deutschen Bundestag weiß, wovon sie redet; sie wuchs zusammen mit fünf Geschwistern in einer kurdisch-alevitischen Arbeiterfamilie in Duisburg auf und studierte nach dem deutschen Abitur schließlich nicht nur in Marburg und Köln, sondern auch in Adelaide (Australien). Dort spricht man gewöhnlich Englisch. Das eigentlich Erschütternde an der Meldung ist, welcher Nimmerklug in Knirpsenstadt auf eine solche scheinbar politisch korrekte, aber völlig mondsüchtige Idee kommt? Alle schauen auf die Globalisierung, aber hier wird deutsche Selbstverzwergung betrieben.
Das betrifft nicht nur Fragen der Schulpolitik in NRW. Die ganze internationale und europäische Politik hat ein solches Kaliber. Am 22. Januar 2019 unterzeichneten die Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron in Aachen einen erneuerten Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und Frankreich. Der ehemalige SPD-Vorsitzende, ehemalige Vizekanzler und ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel nannte den Vertrag ein „Kunstwerk der Absichtserklärungen“. Der Frust kriecht aus jeder Zeile, vor allem der, nicht dabei gewesen zu sein. Da kommt es denn schon zu eigenartigen Feststellungen, etwa dieser: „Frankreich und Deutschland haben deutliche Unterschiede in ihrer Sicht auf die Welt. Während in Deutschland die Einbindung in eine liberale Weltordnung und ein westliches Bündnis Staatsräson ist, ist die französische Außenpolitik viel stärker von eigenen Interessen geleitet. Der Aachener Vertrag übergeht diese Unterschiede durch Wohlwollen.“ (IPG-Journal, 28.01.2019)
Frankreich war bereits Teil des westlichen Bündnisses, als General de Gaulle noch für das „Freie Frankreich“ in London residierte. Frankreichs Wirtschaft ist heute nicht weniger in der Weltwirtschaft verankert als die Deutschlands. Und dass Deutschland nicht eigenen Interessen folgen würde, ist Versuch deutscher Legendenbildung. Beispielsweise hat die deutsche Bundesregierung bis heute nicht wirklich auf die Vorschläge Macrons zur Reform der EU geantwortet, die der kurz nach seiner Wahl im September 2017 gemacht hatte. Deutschland will keine wirkliche Vergemeinschaftung der Wirtschafts- und Währungsunion, obwohl es doch nach außen hin stets für Integration plädiert.
Hier zeigt sich, dass die politisch Verantwortlichen in der EU weder bereit noch in der Lage sind, sich den Herausforderungen der gegenwärtigen Entwicklung zu stellen und die drängenden Probleme zu lösen, im deutsch-französischen Verhältnis nicht, bei den Bemühungen um eine Konsolidierung der „Rest-EU“ der 27 nicht, bei der Regelung des Brexit nicht. Auch die britische Regierung ist ihren Aufgaben nicht gewachsen; es gibt kein Konzept und keine Mehrheit für welchen Brexit auch immer, das Unterhaus beschließt wöchentlich neue Verhandlungsaufgaben für die Regierung gegenüber Brüssel, und dort wird einer tibetanischen Gebetsmühle gleich wiederholt, es gebe keine weiteren Verhandlungen. Damit haben sich London wie Brüssel in wechselseitige Schockstarre versetzt, unterbrochen von hektischen Aktionsversuchen.
Auch die Gefahren eines Atomkrieges nach der Aufkündigung des INF-Vertrages werden ausgeblendet und die NATO schwadroniert über neue Aufrüstungen gegen Russland, ohne den sich auftuenden Abgrund wirklich wahrnehmen zu können oder zu wollen. Es stellt sich die Frage, wer denn derzeit überhaupt in der Lage ist, vernünftige, sachgerechte Entscheidungen zu treffen, und zu welchem Ergebnis.
Hier scheint ein altes Problem auf, das so gefasst werden kann: „Man hat seit jeher, übrigens ohne Ergebnis, die Frage diskutiert, ob die geschichtlichen Ereignisse das Werk einiger großer Männer oder kollektiver Kräfte sind. Die Menschen scheinen noch immer nicht gemerkt zu haben, dass, wie auch die Verfassung eines Staates beschaffen sein mag, in den kritischen Augenblicken jene, die über das Schicksal der Völker entscheiden, immer nur in sehr kleiner Zahl da sind und keine Sicherheit dafür vorhanden ist, dass diese Männer auch wirklich große Männer sind. Zumeist sind sehr kleine Männer von der Geschichte damit betraut, sehr große Entscheidungen zu treffen. Viele Katastrophen rühren daher.“ Das schrieb der italienische Historiker Guglielmo Ferrero in seinem Buch über Talleyrand und die Neuordnung Europas nach dem Sieg über Napoleon, dessen Manuskript er kurz nach Beginn des zweiten Weltkrieges abschloss. Das gilt in einem modernen Sinne natürlich nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen, schließt also Theresa May, Angela Merkel, Andrea Nahles oder Annegret Kramp-Karrenbauer durchaus mit ein.
Noch schlimmer als „große Entscheidungen“ kleiner Männer und Frauen ist, wenn keine Entscheidungen getroffen werden. Nicola Lubitsch, die in den USA lebende 80-jährige Tochter des Meisterregisseurs Ernst Lubitsch, hat angesichts der Präsidentschaft von Donald Trump die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt und als Tochter deutscher Juden erhalten. In einem Interview sagte sie über Angela Merkel, „in einer Welt, die auseinanderbricht“, scheine „sie geradezu wie ein Leuchtturm an Vernunft und Anstand“ (Berliner Zeitung, 30. Januar 2019). Wie klein sind dann die anderen „sehr kleinen“ Männer und Frauen?
Schlagwörter: Bernhard Romeike, Brexit, Europa, Geschichte, internationale Politik, Schulpolitik, Sigmar Gabriel