von Erhard Crome
Die Short Story als Genre wird so beschrieben: Sie sei eine „moderne literarische Form der Prosa, deren Hauptmerkmal in ihrer Kürze liegt. Dies wird oft durch eine starke Komprimierung des Inhaltes erreicht.“ Inzwischen hat diese Form auch die Geschichtsdarstellung erreicht. Während in den vergangenen Jahren zusammenfassende Geschichtsdarstellungen – der Weltwirtschaft, der europäischen Eroberung der Welt, der Moderne, des Imperialismus – voluminöser wurden, 1000 Buchseiten schon der Normalfall, gab es plötzlich „kurze Geschichten“. Etwa Tim Marshall, der die Weltpolitik mit der Macht der Geographie anhand von zehn Karten zu erklären versucht, oder Yuval Noah Harari, der „eine kurze Geschichte der Menschheit“ verfasst hat. Nun also „die kürzeste Geschichte Deutschlands“ von James Hawes. Das Werk, heißt es, habe in Großbritannien positive Kritiken erhalten und sei auf die Bestseller-Liste der Sunday Times gerückt.
Nun gibt es das Werk auch auf Deutsch. Während Hararis Menschheits-Geschichte sehr kurzweilig zu lesen ist und interessante Querverbindungen zu Paläontologie, Abstammungsgeschichte und Entwicklung von Technik und Wirtschaft aufweist, fragt man sich nach dem Lesen von Hawes’ Deutschland-Geschichte, was denn nun in der Tat bewiesen ist und was eher durch Weglassen auffällt. Der Autor, promovierter Germanist, Schriftsteller, ehemaliger Schauspieler und jetzt Universitätsdozent für Kreatives Schreiben, hat kreativ geschrieben und in der Tat frohgemut komprimiert: Für das erste Halbjahrtausend von Caesar bis zum Tode des Gotenkönigs Theoderich d. Gr. im Jahre 526 braucht er exakt 28 Seiten, für das zweite von den Goten über das Kaisertum Karls d. Gr. bis zum Tode Ottos II. 983 20 Seiten, für das dritte bis zur Reformation und der Gründung des Staates Preußen 1525 36 Seiten und für das vierte Halbjahrtausend bis zu Angela Merkels Flüchtlingspolitik immerhin 214 Seiten.
Das geht nur mit kräftigen Retuschen. Für den Dreißigjährigen Krieg benötigt Hawes knapp drei Seiten, für die gesamte Geschichte der DDR – als russischer „Marionettenstaat“ – nicht einmal fünf, wobei es hier ausschließlich um Stasi und die angeblich über Gebühr gelobten DDR-Schriftsteller geht. (Diese Textpassagen sind unterhalb jeder Kritik.) Die äußere Zustimmung zur deutschen „Wiedervereinigung“ verortet er vor allem bei dem französischen Präsidenten Mitterrand. Die britische Premierministerin Thatcher kommt nicht vor. US-Präsident Bush sen. übrigens auch nicht, obwohl alle Fachhistoriker einig sind, dass dessen Placet für Kohls Vereinigung entscheidend war und er dies bereits Ende 1989 gegeben hatte – bevor Mitterrand am 20. Dezember 1989 in (Ost-)Berlin noch die Möglichkeiten deutscher Zweistaatlichkeit sondierte und zu einer Zeit, da Gorbatschow noch von einer mittelfristigen Existenz der DDR träumte.
An anderen Stellen hat die kräftige Verkürzung auch etwas bestechend Ehrliches. So spricht Hawes von einem „Wirtschaftswunder, das keines war“ und verweist darauf, dass SS-Chef Heinrich Himmler bereits 1943 ein Expertengremium eingesetzt hatte, um ein Konzept für die Wiedereinführung eines freien Marktes nach dem Krieg vorzubereiten. Dem Gremium gehörten unter anderen Ludwig Erhard, der spätere Wirtschaftsminister, und der Topbanker Karl Blessing, 1958 bis 1969 Bundesbankpräsident, an. Der Plan enthielt unter anderem das Konzept der Ersetzung der inflationsbedrohten Reichsmark durch eine neue Deutsche Mark. Angesichts der sich abzeichnenden Niederlage im Zweiten Weltkrieg verschwand der Plan im Panzerschrank, doch als die westlichen Besatzungsmächte die Wirtschaft im Westen wieder ankurbeln wollten, wurde der Plan 1948 wieder vorgeholt und umgesetzt. Mit der Währungsreform verloren die Kleinsparer nahezu alles, während Aktien- und Sachwertbesitzer ungeschoren blieben. Zudem, auch dies erinnert Hawes, lagen zwar die deutschen Städte in Schutt und Asche, doch nur 6,5 Prozent des industriellen Maschinenparks im Westen mussten vollständig abgeschrieben werden. Insofern bildeten die harte neue Währung mit einem „festen, extrem exportfreundlichen Wechselkurs“, die fortbestehenden Geschäftsvermögen, ein noch funktionierender Maschinenpark und eine qualifizierte Arbeiterschaft die Grundlagen für den westdeutschen Wirtschaftsaufstieg. Hinzu kam der Marshallplan. „Das alles summierte sich zum größten und wirtschaftsfreundlichsten Rettungsprogramm aller Zeiten.“
Hawes’ Hauptthese ist rasch zusammengefasst: Am Ende des ersten Halbjahrtausends gab es neben Gallien ein römisch geprägtes Germanien westlich und südlich des Limes, das heißt an Rhein und Donau, das sich mehr oder weniger bis zur Elbe erstreckte. Nach den karolingischen Reichsteilungen entstand aus Gallien Frankreich und dem östlichen Gebiet an Rhein und Donau bis zur Elbe Deutschland. Im dritten Halbjahrtausend erfolgte die Eroberung Ostelbiens, die am Ende bis zum Ordensstaat in Ostpreußen reichte, aus dem dann Preußen wurde. Mit Reformation und Preußen konsolidierte sich ein östliches Deutschland, das politisch, mental und kulturell von dem westlichen Deutschland unterschieden blieb und mit der preußischen Reichseinigung 1871 das ganze Deutschland eroberte. Der Erste Weltkrieg und am Ende Hitler, der vor allem in den protestantischen Gebieten gewählt wurde, nicht von Katholiken, seien die Folge dessen gewesen.
Das ist unter historischen Parteienforschern inzwischen unbestritten, bedürfte jedoch genauerer, vor allem sozialstruktureller analytischer Untersetzung. Zugleich kommt Hawes zu der eigenartigen Folgerung, Hitlers Befehl zum Überfall auf die Sowjetunion habe „mit der westdeutschen Geschichte nichts zu tun gehabt“, sondern sei eine „durch und durch preußische“ Entscheidung gewesen. Das behauptet Hawes, obwohl er einige Seiten vorher Preußen als „Schutzbefohlenen“ Russlands denunziert. Beim kreativen Schreiben ist argumentative Konsistenz wahrscheinlich nicht Bedingung.
Kernaussage ist: „Adenauers Deutschland hatte frappierende Ähnlichkeiten mit dem von Rom geplanten Germanien, dem deutschen Reich Karls des Großen und Napoleons Rheinbund. Es hatte eine Pufferzone zwischen sich und Polen, keine Berührungspunkte mit Russland und lediglich eine kurze Grenze mit den Tschechen. Die sogenannte Vereinigung von 1871 wurde durch die endlich erreichte Einheit aller Deutschen westlich der Elbe ungeschehen gemacht.“ Aus dieser Sicht ist die „sogenannte Wiedervereinigung“ von 1990 für Hawes „eine gestutzte Neuauflage des sogenannten Deutschen Reichs, dieser preußischen Lüge, die Westdeutschland und der Welt von Bismarck 1871 aufgezwungen worden war“. Den (West-)Deutschen werde es, wie damals, als „nationale Pflicht“ angetragen, „ein bankrottes Ostelbien zu subventionieren, wie es zuvor ihre Vorfahren unter den Junkern und den Nazis getan hatten“. Aus den Wahlergebnissen für die Linke und die AfD folgert Hawes, dieses Ostelbien lärme gegen EU und NATO und sei gerade wieder dabei, auch politisch Deutschland zu dominieren.
Angela Merkel wird ausführlich belobhudelt, obwohl sie doch protestantische und ostelbische – um bei dem Jargon zu bleiben – Wurzeln hat. Hawes’ Fazit lautet: „Dieses Deutschland ist Europas große Hoffnung. Es muss jetzt handeln, und es muss jetzt als das Land anerkannt werden, das seine Bestimmung endlich erfüllt: ein mächtiges Land im Herzen des Westens zu sein.“ Zuvor geißelt er „Trumps Schlingerkurs gegenüber der NATO“ und „Großbritanniens Austritt aus der EU“. Etwas irritiert legt der Leser das Buch aus der Hand. Geht es wirklich um deutsche Geschichte? Oder ist es eher eine Art Selbsttherapie, um als Engländer am derzeitigen Zustand Großbritanniens und der USA nicht irre zu werden? Als Einwohner dieses real existierenden Landes kann ich nur anmerken: Deutschlands Berufung ist es nicht, die Welt zu retten. Auch wenn in etlichen Zirkeln hierzulande dies voller Inbrunst halluziniert wird.
James Hawes: Die kürzeste Geschichte Deutschlands, Propyläen, Berlin 2018, 336 Seiten, 18,00 Euro.
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