22. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2019

Kommissar und Ataman

von Henryk Goldberg

Sind Sie eigentlich ostdeutsch? Blöde Frage? Na ja, aber doch irgendwie kompliziert. Die Fraktion der Linken im Landtag von Mecklenburg Vorpommern ist ja beinahe von Berufs wegen ostdeutsch und hat jetzt definiert, wer dazugehört. Nämlich „wer vor dem 31. Dezember 1975 auf dem Gebiet der DDR geboren wurde und dort 1989 oder kurz davor gelebt hat“. Nun ja, die Frage nicht, nur diese Antwort.
Aber falls Sie es interessiert, ich fand jetzt eine Antwort: Ostdeutsch ist, unter anderem, wer bei bestimmten Büchern bestimmten Erinnerungen verfällt. Es war dieser Tage auf der geriatrischen Station eines Krankenhauses. Im Gemeinschaftsraum ein Regal mit Büchern, die Patienten für ihre Nachfolger liegenlassen. Das Regal war mit dem Üblichen gefüllt, „Drei Romane in einem Band“, alles so was. Und dann dieses Buch mit der schlichten Fröhlichkeit auf dem Pappeinband: „Timur und sein Trupp“. Upps, dachte ich und grinste ein wenig, lang nicht mehr gesehen. Eine Ausgabe von 1950, das schlechte Papier vergilbt, gewellt unter der Last der Jahre, Eselsohren, irgendwem muss irgendwann irgendein Saft über die Seiten geträufelt sein, gelber Buntstift vorn, grüner hinten.
Wie mag das alte Buch hierher geraten sein, zu den Alten? Hat es einer der Patienten einmal mitgebracht? Hat es eine Besucherin in Omas alter Kammer gefunden und gedacht, dass wär vielleicht was, bisschen von früher und nicht allzu aufregend?
Gut, man soll es nicht, aber ich habe es eingesteckt und zu Hause gelesen, zum zweiten Mal, nach geschätzten 60 Jahren.
Und, das ist das Überraschende: Es war nicht so albern, wie erwartet. Es ist nicht diese übermenschliche Revolutionstrompete mit der der Stahl gehärtet wurde, es ist eine irgendwie normale, naive Hurra-wir-haben-Ferien-Geschichte. Und so ein Alarm, Stufe 1 über die Strippen ausgelöst, ist auch nicht schlecht. Und sehr berechtigt, wenn zum Beispiel in der Kriwajagasse 34 ein Apfelbaum der Sorte „Goldsaft“ geplündert wird, just vor jenem Haus, das dem Rotarmisten Krjukow gehört. Und natürlich war es wieder diese Bande von diesem Kwakin, diesem Lumpenhund. Aber die kriegen sowas von auf die Mütze, und danach füllen wir wieder dem alten Mütterchen den Wasserbottich, fangen der alten Großmutter die Ziege sein und sorgen dafür, dass das kleine Mädchen aus der Nr. 25 nicht mehr weinen muss. Wer wollte da nicht mitmachen. Wer wollte nicht den anderen helfen, es gibt Schlimmeres.
Irgendwann, es muss in den frühen 60ern gewesen sein, gab es einen richtig kalten Winter, und wir haben, organisiert über die Schule, alten Menschen Essen nach Hause gebracht. Das war kalt und ein wärmendes Gefühl war es auch.
Was an diesem Buch Ideologie ist, das war für den Jungen damals so gut wie nicht wahrnehmbar. Ja, diese Bande der bösen Buben trifft sich in der alten Kapelle, an deren Wand die drohenden Bilder der Apokalypse abblättern. Ob es, fragt Shenja die große Schwester, eigentlich so was wie einen Gott gibt. Ach, sie soll den Unsinn lassen, wird ihr zur Antwort. Und dass die Front, an die die Rotarmisten ziehen, nicht die sowjetische Westfront, also die deutsche ist, noch nicht, weil in diesem Jahr noch die deutsch-sowjetische Freundschaft galt, sondern dass es der Ferne Osten, die Mandschurei war, das hat uns niemand erklärt, es hätte aber nichts geändert.
So wenig wie ich gewusst habe, dass die Timur-Leute, wenn sie die Häuser ihrer Schutzbefohlenen mit einem roten Stern markieren, es ein wenig machen, wie die Juden es machten, damit das Blut der Lämmer sie schütze, wenn der Herr strafend durch die Nacht zieht. Und dass der Timur, unser Held, der Kommissar war, und dieser Kwakin, dieser Lumpenhund, der Ataman, dass verstand sich von selbst. Nicht, dass wir gewusst hätten, was ein Ataman war, irgendwas Böses halt. Und so jagten wir das Pack zum Teufel, General und Ataman.
Timur, unser Freund, unser Held, trug einen roten Stern auf dem blauen Hemd. Und wie von ungefähr fiel mir da der Titel eines Theaterstückes ein: „Blaue Pferde auf rotem Gras“. Ein Erfolgsstück von Michail Schatrow, ein Tag im Leben Lenins. Viele Jahrzehnte später, ein Renner in der Inszenierung von Christoph Schroth am Berliner Ensemble. Und wie das kleine, harmlose Büchlein von Arkadi Gaidar Ausdruck einer Illusion. Der Illusion, es werde schon alles gut werden mit diesem Sozialismus, wenn sich nur genug ehrliche Menschen darum bemühen. Vielleicht, dass deshalb manchen Büchern auch eine Art von Melancholie eignet, weil darüber Heiner Müller grinst: Optimismus ist Mangel an Information. Im Übrigen habe ich das Buch brav zurückgetragen. Schließlich, ich bin doch kein Lumpenhund, kein Ataman.