von Uwe Feilbach
Als zu Beginn der 1960er Jahre die ehemaligen Kolonien in Afrika und Asien nach und nach ihre Unabhängigkeit erlangten, ergab sich die Notwendigkeit, diese neu gegründeten Staaten beim Aufbau staatlicher Strukturen und einer funktionierenden Wirtschaft zu unterstützen. Vorbild sollte hierbei der Marshallplan sein, der sich beim Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg bewährt hatte. Um die bis dahin sporadischen und ungeplanten Hilfsmaßnahmen in Form von Krediten an die neu entstandenen Staaten auf internationaler Ebene zu koordinieren und zusammenzuführen, wurde am 30. September 1961 die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit Sitz in Paris gegründet. Auf dieser Gründungskonferenz entstand erstmals der Begriff „Entwicklungshilfe“, der seit den 90er Jahren durch „Entwicklungszusammenarbeit“ ersetzt wurde. Nach Gründung der OECD wurden in einer Reihe von Ländern Entwicklungsministerien geschaffen.
In den Jahrzehnten, die seit der Gründung der OECD vergangen sind, sind zahlreiche Institutionen der Entwicklungshilfe gegründet, sehr unterschiedliche Initiativen in Angriff genommen und Strategien verfolgt worden, und doch sind die ursprünglich ins Auge gefassten Ziele, nämlich die Herstellung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Stabilität der aus den ehemaligen Kolonien hervorgegangenen Staaten, nur in sehr ungenügendem Maße erreicht worden. Die Menschen, die seit Jahren in großer Zahl, namentlich aus den Ländern Afrikas, oft unter Lebensgefahr über das Mittelmeer nach Europa kommen, weil es ihnen in ihren Heimatländern nicht möglich ist, sich eine Existenz aufzubauen, sind ein beredtes Zeugnis nicht zuletzt auch für eine fehlgeleitete Entwicklungspolitik.
Thomas Gebauer, Geschäftsführer der Hilfsorganisation „medico international“, und der Schriftsteller Ilija Trojanow haben in ihrem Buch „Hilfe? Hilfe! Wege aus der globalen Krise“ anhand von überzeugenden Beispielen, die sie auf einer Reise durch acht Länder gesehen und erlebt haben, Kritik an einer Entwicklungshilfe geübt, die sich selbst genügt und an den Verhältnissen nichts Grundsätzliches ändert.
Nach Ansicht der Autoren bedarf es zur nachhaltigen Bekämpfung des Hungers und des sozialen Elends in vielen Teilen der Welt „grundsätzlicher Eingriffe in bestehende Ungleichheiten und Machtverhältnisse“. Was sie an den Konzepten der Entwicklungshilfe unter den Bedingungen des Neoliberalismus vor allem kritisieren, ist die Tatsache, dass die von ihnen anvisierten Ziele „nicht durch eine gerechte Verteilung vorhandener Ressourcen, sondern allein durch Wirtschaftswachstum verwirklicht werden sollen“.
Die Autoren mahnen ein grundsätzliches Hinterfragen des gängigen Begriffs von Hilfe an. Kritisch wird vor allem angemerkt, dass organisierte Hilfe, seit sie existiert, immer auch für eigennützige Zwecke instrumentalisiert wird. Dringend wird in diesem Zusammenhang die Schließung von Steueroasen gefordert. Nach Schätzungen der OECD verlieren arme Staaten dreimal mehr durch Steuerhinterziehung, als sie Entwicklungshilfe erhalten.
Die Autoren stellen fest, dass das Hauptproblem nicht darin bestehe, dass es zu wenig Hilfe gibt, sondern dass die bestehenden Verhältnisse immer mehr Hilfe notwendig machen. Sie stellen die Frage: „Was ist eine Hilfe wert, die nicht das übergeordnete Ziel verfolgt, sich selbst überflüssig zu machen?“ Die herrschende neoliberale Ideologie in Bezug auf die Hilfe wird dadurch charakterisiert, dass nicht eine gerechte Umgestaltung der Gesellschaft gefordert wird, sondern dass die soziale Verantwortung weitgehend privatisiert, das heißt, dass freiwilliges Engagement die verlässlichen staatlichen Sozialstrukturen ersetzen soll.
Während die Entwicklungshilfe anfangs stärker auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse und Hilfen für die bäuerliche Landwirtschaft gerichtet war, trat in den achtziger und neunziger Jahren die Vorstellung in den Vordergrund, Entwicklung „von oben“ durch Förderung des Wirtschaftswachstums und der Marktkräfte bewirken zu können.
In dem Kapitel „Geld und Hilfe“ setzen sich die Autoren kritisch mit den vielfach als Erfolgsmodell gelobten Mikrokrediten auseinander, die als „Geschäft mit der Armut“ entlarvt werden. In Afrika werden sie meist von ehemaligen Subsistenzbauern in Anspruch genommen, die durch die Industrialisierung der Landwirtschaft ihre Existenzgrundlage verloren haben und so gezwungen sind, im informellen Sektor kleine Läden oder Werkstätten zu eröffnen. Oft sind sie auf Grund ihrer Armut gar nicht in der Lage, diese meist mit außergewöhnlich hohen Zinsen belegten Kredite jemals zurückzuzahlen. Meist werden diese Gelder aber auch für die Bestreitung von Ausgaben des täglichen Bedarfs, wie zum Beispiel Arztkosten, die Schulbildung der Kinder oder Hausreparaturen verwendet.
Die Autoren kritisieren, dass im Zuge der neoliberalen Politik nicht die Armut und die Fluchtursachen, sondern die Armen und die Flüchtlinge bekämpft werden und dass für die Krisen in den Entwicklungsländern in erster Linie die einheimische Korruption und nicht die ungerechte Handels-und Wirtschaftspolitik der Länder des globalen Nordens verantwortlich gemacht und dass das Argument der verletzten Menschenrechte seitens des globalen Nordens zum Vorwand für sicherheitspolitische Interventionen genommen wird. Zitiert wird unter anderem der Sozialwissenschaftler Ulrich Brand, der von einer „imperialen Lebensweise“ spricht, die viele von uns auf Kosten der armen Länder des Südens führen, indem sie von den billigen Rohstoffen und Agrarprodukten profitieren, die von dort importiert werden.
In dem Kapitel „ Fit für die Katastrophe werden“ wird auf das Konzept der „Resilenz“ eingegangen, welches Gegenstand eines Forums in Brüssel im Jahre 2014 gewesen war. Dieser Ansatz geht davon aus, dass, da die großen Krisen dieser Welt ohnehin nicht mehr überwunden, sondern nur noch gemanagt werden können, es darauf ankommt, die Menschen dazu zu befähigen, sich dem permanenten Krisenzustand anzupassen. Kritisiert wird auch der PR-Rummel, mit dem Stiftungen und Wohltätigkeitsorganisationen die verschiedensten Spendenaktionen für Notleidende in der Dritten Welt anpreisen. Das Spenden selbst ist, so die Autoren, zu einem Konsumangebot, zu einem Event, zu „Charitainment“ geworden, und nicht zuletzt könne Spenden ein sehr einträgliches Geschäft für clevere „Philantrokapitalisten“ sein.
Im letzten Kapitel unter der Überschrift „Es geht auch anders“ werden anhand von konkreten Beispielen aus verschiedenen Entwicklungsländern, welche die Autoren auf ihren Reisen beobachtet haben, Möglichkeiten aufgezeigt, wie durch zahlreiche selbstorganisierte Initiativen von unten den verhängnisvollen Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung entgegengewirkt und die Behauptung, es gäbe keine Alternative zum gegenwärtigen Status Quo ad absurdum geführt werden kann. Die Autoren betonen die Wichtigkeit von Initiativen der Selbstorganisation auf lokaler und genossenschaftlicher Basis und führen dafür praktische Beispiele unter anderem aus Nicaragua, Guatemala, Kenia und Pakistan an.
Allerdings entstehen derartige Initiativen meist außerhalb oder sogar in Opposition zu staatlichen Strukturen. Natürlich sind die Anhänger des bestehenden Systems ständig bemüht, alternative lokale Aktivitäten, zum Beispiel auf genossenschaftlicher oder basisdemokratischer Grundlage zu diskriminieren und zu dämonisieren. Das Buch plädiert für einen „radikalen Reformismus“, für Selbstorganisation von der Basis her auf lokaler Ebene und schließlich für eine „Globalisierung von unten“, eine internationale Zusammenarbeit und Vernetzung von Graswurzelinitiativen, sozialen Bewegungen, NGOs und anderen. Als positives Beispiel hierfür wird unter anderem das „People’s Health Movement“ (PHM) angeführt.
Thomas Gebauer / Ilja Trojanow: Hilfe? Hilfe! Wege aus der globalen Krise, FISCHER-Taschenbuch, Frankfurt am Main 2018, 256 Seiten, 15,00 Euro.
Schlagwörter: Dritte Welt, Entwicklungshilfe, IljaTrojanow, Neoliberalismus, OECD, Thomas Gebauer, Uwe Feilbach