22. Jahrgang | Nummer 4 | 18. Februar 2019

Erinnern an Tomi Ungerer

von Thomas Behlert

Es war zu Zeiten des Heiligen Krieges, als eine sozialdemokratische Regierung über den Köpfen ihres Volkes damit begann, Jugoslawien in die Kleinstaaterei zurück zu bomben. Das Leben in Deutschland ging derweil weiter, zum Beispiel mit einer Buchmesse in der Bankenstadt Frankfurt am Main.
Da sah ich ihn zum ersten Mal Tomi Ungerer, den ich vorwiegend wegen seiner tollen und immer sehr witzigen Bilder und Cartoons bewunderte. Ins Herz hatte ich sein „Kamasutra der Frösche“ geschlossen, ein Buch voller unsittlicher, lustvoller und tierisch erregender Bilder, die zur Nachahmung dienen sollten. Also, da saß er an einem kleinen Tisch und gab fleißig und liebenswert Autogramme in Poesiealben und gerade erworbene Bücher. Plötzlich erklang eine schnarrende Befehlsstimme aus den Lautsprechern, die zu einer Schweigeminute aufrief, da im ungerechten Krieg die ersten deutschen Soldaten sich gegenseitig erschossen hatten oder von der Fahrbahn abgekommen waren. Mein lieber Herr Ungerer hörte nur kurz zu, wunderte sich nur über die plötzlich in sich verharrenden Menschen und schimpfte ziemlich laut vor sich hin. Zu mir, der gerade um ein Autogramm bat, meinte er in etwa: Her mit dem Buch, ich gebe dir sofort ein Autogramm, ich verharre doch hier nicht für einen ungerechten Krieg. War das herrlich, diesen wunderbaren Mann kurz kennengelernt und außerdem die Stoßgebete der Standbetreuerinnen erlebt zu haben.
Seine recht eigenartige Kindheit verbrachte der kleine Tomi mit drei älteren Geschwistern. Nach dem Tod des Vaters, der ein Künstler, Historiker und Büchersammler war und sogar die Astronomische Uhr des Straßburger Münsters wartete, zog die Mutter mit den Kindern zurück in die Heimat Logelbach. Hier agierte der Vater von Ungerers Mutter als technischer Direktor einer Spinnerei. In dieser Lebensperiode kam Tomi nicht mit gleichaltrigen Kindern zusammen, da seine Mutter überfürsorglich agierte und in der Familie auch nur Französisch sprechen ließ. Elsässisch galt als Sprache des einfachen Volkes. Die Schuljahre prägten vor allem die Besetzung des Elsass durch die Deutschen, die die Spinnerei der Familie zu einem Gefangenenlager umfunktionierten. In dieser Zeit besuchte er die Volksschule, lernte die deutsche Sprache und den elsässischen Dialekt. Nach dem Verfehlen des Abiturs, wobei er im Abschlusszeugnis sogar als „pervers“ und „subversiv“  bezeichnet wurde, fuhr er mit dem Fahrrad durch Frankreich, später sogar durch Europa, um Arbeit zu finden. Vieles probierte er aus, brach aber auch schnell wieder ab. Schließlich ging Ungerer mit wenig Geld, und der wahnwitzigen Idee wie die Cartoonisten Saul Steinberg und James Thurber zu werden, in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Nach anfänglichen Misserfolgen durfte er das Kinderbuch „The Mellops go flying“ illustrieren, was zum Bestseller wurde. Danach ging es Schlag auf Schlag: Ungerer arbeitete nun als Kinderbuchautor, Illustrator, Zeichner, Maler und Werbegrafiker und schockte gleich mit seinen Büchern „Geheimes Skizzenbuch“ und „The Party“ die feinen Leute von New York. Sein anschließendes Buch „Fornicon“, angefüllt mit herrlichen Bildern und übertrieben dargestellten sexuellen Wünschen, wurde im prüden Land sogar verboten. Selbst sagte er dazu: „Meine Satiren waren härter geworden, das konnten die Amerikaner nicht akzeptieren. Ich wurde im Kongress attackiert, wie ich es wagen könne, Kinderbücher mit erotischen Zeichnungen zu machen. Ich habe geantwortet, daß es ohne Sex nun mal keine Kinder gäbe. Danach war ich in Amerika erledigt.“ (November 2001). Er zog zurück nach Europa, musste einige gesundheitliche Krisen überstehen und fand schließlich zur gewohnten Produktivität zurück. Unermüdlich zeichnete Tomi Ungerer Cartoons, Aquarelle und konzipierte architektonische Entwürfe.
Nun vermeldete sein Verlag Diognes, dass der Künstler, der über 140 Bücher schuf, an den das Bundesverdienstkreuz, der „e.o. plauen Preis“, der „Erich Kästner Preis für Literatur“ und die Ehrendoktorwürde der Uni Karlsruhe übergeben wurden, am 9.2. im Alter von 87 Jahren gestorben ist.
Lassen wir noch einmal sein Motto auf uns wirken: „Ich war immer an Vögeln interessiert – und auch am vögeln, beides“, lesen und betrachten wir seine wunderbaren Bücher und sind traurig.