22. Jahrgang | Nummer 4 | 18. Februar 2019

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

Seit die USA am 1. Februar und einen Tag später auch Russland den INF-Vertrag aussetzten, haben das Menetekel einer politisch-militärischen Erpressbarkeit EU- und NATO-Europas durch den Kreml und schlimmere Orakelsprüche bei einschlägigen Experten und in den Leitmedien weiteren Auftrieb erfahren. Auch der sonst eher nüchterne Wolfgang Ischinger, bis gestern wieder Gastgeber der Münchner Sicherheitskonferenz, warnte im Interview mit dem Handelsblatt am 4. Februar vor entsprechenden Folgen durch „neue zusätzliche Mittelstreckenraketensysteme“ Russlands: „Europa wäre dann politisch-militärisch erpressbar.“ Doch während Ischinger dabei vor allem künftige Verhandlungen mit Moskau im Blick hat, ohne ins Detail zu gehen, werden andere konkreter: „Die Bundesrepublik macht sich atomar erpressbar. Jederzeit könnte der Kreml mit einem Atomschlag drohen, um Berlin unter Druck zu setzen.“ (Jacques Schuster, Die Welt) Und wieder andere haben noch deutlich knalligere Szenarien parat: „Russland fasst in seinen militärischen Planungen die Eroberung baltischer und skandinavischer Staaten sowie der Ukraine ins Auge. […] Für den Fall einer Eroberung […] würde Moskau durch die Androhung (oder die Durchführung) konventioneller oder nuklearer Präzisionsschläge gegen militärische oder politische Ziele in Europa uns und andere vor die Wahl stellen, entweder den neuen territorialen Status quo zu akzeptieren oder aber einen Kernwaffenkrieg zu riskieren.“ (Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel und in dieser Reihe kürzlich schon einmal vertreten.) Ganz auf dieser Linie auch die DGAP-Autoren Heinrich Brauß und Christian Mölling: Mit der neuen Mittelstreckenwaffe SSC-8 (NATO-Code) könne Moskau „nahezu jedes Ziel in fast ganz Europa mit geringer oder ohne Vorwarnzeit treffen: Hauptstädte, kritische zivile und militärische Infrastruktur oder militärische Hauptquartiere“.
Die USA müssten sich im Konfliktfall „überlegen, ob sie ein paar kleinen europäischen Ländern um den Preis eines umfassenden Nuklearkriegs helfen wollen“ (Stefan Kornelius, Süddeutsche Zeitung).

Exkurs: Die Mär vom sogenannten Atomschirm, gern auch von amerikanischer Seite, wenn es international nicht gerade Spitz auf Knopf steht, immer mal wieder erzählt, dass nämlich irgendein US-Präsident je ernsthaft in Erwägung ziehen könnte, die atomare Auslöschung der Vereinigten Staaten durch Kernwaffenangriffe auf gegnerische Atommächte oder deren Streitkräfte zur Verteidigung von Verbündeten, ob nun in Europa oder in Asien, ernsthaft in Erwägung ziehen würde, gehört zu den hartnäckigsten nuklear-strategischen Untoten im Westen, an die – vornehmlich von politischen und militärischen Eliten – immer noch und immer wieder geglaubt wird. Schon 1983 hatte Irving Kristol, seinerzeit Spiritus Rector der US-Neokonservativen, den NATO-Partnern dazu ins Stammbuch geschrieben: „Es erscheint mir absurd zu denken, dass ein Präsident die Zerstörung der Vereinigten Staaten durch die Einleitung eines nuklearen Holocausts riskieren wird, weil russische Panzer in die Bundesrepublik Deutschland eingezogen sind und unsere konventionellen Streitkräfte auf dem Kontinent sie nicht stoppen konnten. Heute ist der Atomschirm zu 99 Prozent ein Bluff.“
Es spricht aber auch gar nichts dafür, dass sich an dieser Prozentzahl irgendetwas geändert hätte.

Doch zurück zu Erpressung und Russlands anderen schrecklichen Optionen, deren Beschwörung sich derzeit insbesondere daraus speist, dass Moskau den INF-Vertrag unterlaufen haben soll – durch den eingangs erwähnten landgestützten Marschflugkörper SSC-8, weil dieser, so behaupten die USA, weiter als 500 Kilometer fliegen könne. Falsch, hält Russland dagegen, bei 480 Kilometern sei Schluss.
Die Frage, wer Recht hat, ist hier nicht entscheidbar. Beide Seiten verweigern bisher den öffentlichen Beweisantritt.
Doch zur Frage, ob der strittige Flugkörper – russisch: 9M729 – eine Waffe ist, „die das atomare Gleichgewicht erschüttert“ (Gerhard Hegmann, Die Welt), gar eine grundlegend veränderte Gefährdungslage für EU- und NATO-Europa schafft und damit eine Erpressbarkeit, kann schon einiges gesagt werden.
Laut offiziellem „Ballistic And Cruise Missile Threat“-Report des National Air and Space Intelligence Centers der USA (NASIC) von 2017 verfügen die russischen Streitkräfte mit den Modellen AS-15 (Trägersystem: Flugzeug, Reichweite: über 2800 Kilometer), SS-N-21 (U-Boot, 2400), 3M-14 (Schiff, U-Boot, 2500) über drei operationsfähige atomar bestückbare Cruise Missile-Modelle, mit denen sie vom russischem Staatsgebiet sowie aus internationalem Luftraum und aus internationalen Gewässern praktisch zu jedem Zeitpunkt jedes relevante Ziel in EU- und NATO-Europa atomar bedrohen kann. Alle diese Systeme existieren in völliger Übereinstimmung mit dem INF-Vertrag, der nur landgestützte Mittelstreckenwaffen mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern verbietet, nicht jedoch luft– und seegestützte. (Zu weiteren Angaben für die nichtstrategischen russischen Kernwaffensysteme sei verwiesen auf Hans Kristensen und Robert Norris: Russian nuclear forces, 2018.)
Für eine politisch-militärische Erpressung EU- und NATO-Europas oder die von Krause prognostizierten Eroberungen von Nordkap bis zum Schwarzen Meer jedenfalls, sollte Russland je der Sinn danach stehen, bedürfte es der 9M729-Systeme also keineswegs; eine grundsätzlich verschärfte Gefährdung geht von ihnen nicht aus. Wer dies dem Publikum trotzdem weiß machen will, darf sich nicht wundern, wenn Zweifel an seiner Sachkompetenz aufkommen. Und an der Lauterkeit seiner Absichten.
Im Übrigen: Wenn Siegmar Gabriel, wie vor kurzem im Tagesspiegel, feststellt, dass derzeit in der NATO für Rüstungskontrolle einzutreten wenig aussichtsreich sei, und als Grund dafür benennt: „Zu groß war wohl die Angst, Trump noch mehr zu verärgern und seine Bereitschaft zur Abkehr von der Nato zu befördern“, dann darf man sich schon fragen, wer EU- und NATO-Europa eigentlich tatsächlich erpresst …

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Vor einigen Wochen publizierte der frühere norwegische Diplomat Torgeir E. Fjærtoft einen „Über das Scheitern der Russlandpolitik des Westens und darüber, was zu tun ist“ betitelten Essay. Darin schreibt er unter anderem: „Die Frage ist, was man gegen die derzeit eskalierenden politischen und militärischen Spannungen tun soll. […] Als Faustregel gilt, dass offener Zwang kontraproduktiv ist, weil er Kompromissfindungen behindert. Anders ausgedrückt, das Einzige, was Putin gegen Sanktionen nicht tun kann, ist, ihnen nachzugeben. Er kann versöhnlich und vernünftig erscheinen, aber nicht schwach. Andererseits dürfen inakzeptable Politikansätze nicht mangels Reaktion zum Erfolg führen und so ein dysfunktionales Muster verstärken. Mit Russland funktionieren […] weder Konfrontation noch Nachgiebigkeit.“ Daher „sollten wir für eine dritte Option auf die erfolgreiche Politik der gemeinsamen Sicherheit von Willy Brandt und Egon Bahr in den frühen 1970er Jahren zurückgreifen. Sie folgten bestimmten Richtlinien, die selbst heute mit Russland funktionieren würden:

  • Der Dialog mit Russland ist keine Alternative zu einem starken Bündnis zwischen den westlichen Demokratien. Es ist umgekehrt. Der Dialog wird ohne das Bündnis nicht funktionieren, und das Bündnis wird keine Sicherheit bieten, wenn wir nicht ein Gleichgewicht zwischen militärischer Stärke und politischem Dialog herstellen.
  • Vorschläge werden nur dann funktionieren, wenn alle Parteien sehen, dass sie ihre eigene Sicherheit erhöhen.
  • Bei der Diskussion über Sicherheit strikt beim Thema bleiben. Keine anderen Themen aufwerfen, um die andere Seite davon zu überzeugen, dass man selbst im Recht ist, diese aber nicht.“

Denen, die „diese Prinzipien ablehnen, weil sie […] unrealistisch“ seien, hält Fjærtoft entgegen: „Während die jüngsten Konfrontationen zu einer neuen Runde der nuklearen Aufrüstung führen könnten, ermöglichte das Klima der Zusammenarbeit, das nach dem Ende des Kalten Krieges einige Zeit andauerte, den Abzug sowjetischer Atomwaffen aus den neuen unabhängigen Staaten, darunter Belarus und vor allem die Ukraine.“
Mit anderen Worten – selbst wenn Vorsicht bei Analogieschlüssen geboten ist: Wer an die Möglichkeit substanzieller sicherheitspolitischer Fortschritte in einem so aufgeheizten Klima zwischen dem Westen und Russland wie gegenwärtig glaubt, der trinkt auch Alkohol, wenn er Durst hat. Um den Kabarettisten Claus von Wagner zu zitieren.