22. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2019

An der Jannowitzbrücke

von Frank-Rainer Schurich

Berlin hat mit 1700 Brücken mehr als Venedig: historische und janz neue, wie der Berliner sagt, denkmalgeschützte (die Jungfernbrücke von 1798!) und baufällige. Die Jannowitzbrücke in Berlins Mitte ist keine Touristenattraktion und steht auf keiner Denkmalliste, aber Kenner der Kriminalgeschichte wissen sie zu schätzen. Die Brücke wurde nach Zerstörung im Zweiten Weltkrieg durch die DDR in den Jahren 1952 bis 1954 in ihrer heutigen schlichten Gestalt erbaut. Sie überquert an dieser Stelle die Spree und verbindet damit das nördlich gelegene Ostberliner Zentrum um den Alexanderplatz (das ehemalige Stralauer Viertel) mit dem heutigen Heinrich-Heine-Viertel im Süden, der früheren Luisenstadt.
Auf eine lange und wechselvolle Jahre Geschichte kann die Jannowitzbrücke dennoch zurückblicken. Die erste hölzerne Jochbrücke über die Spree errichtete 1822 der Baumwollfabrikant Christian August Jannowitz. Wirtschaft und Handel entwickelten sich prächtig an beiden Ufern der Spree; bis ins 19. Jahrhundert existierten zum Beispiel in Spreenähe große Holzmärkte, an die heute noch der Name Holzmarktstraße erinnert. Der Brückenschlag war in aller Munde und bewegte die Berliner, so dass in dieser Zeit sogar eine Berliner Sage mit selbstmörderischem Einschlag entstand:
„Der Kaufmann Jannowitz war arm und heiratete in einen Krämerladen in der Poststraße hinein. Um seine Waren besser transportieren und absetzen zu können, baute er eine Brücke über die Spree. Sein Geschäft ging gut vorwärts; aber die bedeutend ältere und hässliche Frau gefiel ihm nicht mehr. Er verliebte sich in eine junge hübsche Angestellte und wollte sich von seiner Frau scheiden lassen. Aus Gram darüber stürzte sich diese von der neuen Brücke in die Spree. Zum Andenken an dieses Unglück und zur ewigen Strafe für die Untreue des Kaufmanns wurde die Brücke Jannowitzbrücke genannt.“ Eine sogenannte Wandersage, die so oder so ähnlich von vielen Brücken erzählt wird und wohl auf den Brauch des Bauopfers zurückgehen mag. Belegt ist sie aber nicht.
Ganz in der Nähe der Jannowitzbrücke befand sich einst das Stralauer Tor, zuweilen ein grausamer Ort. Vor dem Tor wurden nämlich Todesstrafen vollstreckt. Frauen, die wegen „Kindesentledigung“ schuldig geworden waren, steckte man in einen Sack und ertränkte sie in der Spree. So lesen wir in der „Wendland’schen Chronik von 1648 bis 1701“ einen genauen Bericht: „Den 9. December (1678) ward ein Weibstück vorm Stralauer Thor ersäufet. Sie hatte sich von ihrer Schwester Mann beschlafen lassen und nachmals das Kind umgebracht […] Den 6. May (1679) ward ein Weibstück, welche ein Kindt umgebracht, am Straloschen Thore ersäuft.“
Es gibt zudem Kunde, dass man vor dem Stralauer Tor Militärstraftäter hinrichtete: „Den 14. April (1697) war ein Furier [ein für Verpflegung, Futter und Unterkunft einer Einheit zuständiger Unteroffizier – d.A.] von der Garde, welcher einen Soldaten in Ungarn entleibet, nachdem er Jahr und Tag gesessen, vor dem Straloschen Thore in der Paterey (Batterie) enthauptet. Er wolte ungern sterben, schützte auch öfters seine Unschuld vor, aber Alles vergebens. Ward begleitet von Herr Nageln.“
Gut 200 Jahre später kehrte das Grauen mit Macht zurück. Sowohl in der Spree als auch im Luisenstädtischen Kanal, der früher an der Schillingbrücke von der Spree abzweigte, wurden ab 1918 immer wieder Köpfe, Arme und Beine von Frauen aus dem Wasser geborgen. Da war die Gegend um die Jannowitzbrücke, wie es kriminalistisch heißt, ein Fundort. Karl Grossmann, genannt die „Bestie vom Schlesischen Bahnhof“, hatte seine Opfer zerstückelt und die Leichenteile in den Fluss geworfen. Es ist nie genau geklärt worden, wie viele Frauen er tötete; man geht von zirka zwanzig Opfern aus. Darüber ist in diesem Magazin bereits berichtet worden.
Karl Großmann war der Berliner Serienmörder, und er lebte in der Langen Straße 88 ohnehin in einem gefährlichen Stadtviertel. Zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg war die Umgebung des Schlesischen Bahnhofes (heute Ostbahnhof), nicht weit entfernt von der Jannowitzbrücke, zum Gebiet mit der höchsten Kriminalitätsrate in Berlin geworden. Die örtlichen Revierpolizisten konnten hier immer nur zu zweit auf Streife gehen, die Einwohner standen ihnen in feindlicher Aggressivität gegenüber. Die eigentliche Ordnungsmacht dieses Gebietes waren „Unterweltorganisationen“ wie der Ringverein „Immertreu“. Deshalb markierte die Jannowitzbrücke die Grenze zwischen dem gesitteten Berlin und diesem berüchtigten Viertel.
„Der Berliner weiß vom Osten“, schrieb der Gerichtsreporter Inquit alias Moritz Goldstein am 8. Februar 1929 in der Vossischen Zeitung, „dass bis zur Jannowitzbrücke etwa das Berlin reicht, das wir kennen und in dem wir leben. Dahinter beginnt eine fremde Stadt, es beginnt das, was der Bürger mit Gruseln als Unterwelt bezeichnet und sich von seiner Welt zunächst nur durch seine unentrinnbare Trostlosigkeit unterscheidet.“
Dort, wo früher das Stralauer Tor stand, befindet sich heute unter der Anschrift Littenstraße 109 ein kolossaler, viergeschossiger Bau unter Mansarddach – das ehemalige Verwaltungsgebäude der Berliner Gaswerke AG (GASAG), 1911 von Ludwig Hoffmann erbaut. Auch von diesem Ort gibt es Kriminelles zu berichten. Die berühmt-berüchtigte Gladow-Bande der Nachkriegszeit plante im Mai 1949, die Kasse der GASAG in Ostberlin zu überfallen. Ein schnelles Auto musste besorgt werden, und man wollte sich in der Straße Unter den Linden einen schweren BMW der Deutschen Wirtschaftskommission beschaffen. Der Plan ging aber nicht auf, denn der Chauffeur des BMW Eduard Alte schrie angesichts der vielen Passanten um Hilfe, nachdem er brutal aus seinem Fahrzeug gerissen und auf die Straße geworfen wurde. Werner Gladow schoss sofort auf ihn und traf tödlich. Die Bande musste sich eilig zurückziehen – und der Überfall auf die GASAG-Kasse abgeblasen werden.
Bleibt abschließend die Frage: Gab es denn keinen Mord auf der Jannowitzbrücke? Mit Sicherheit, aber die Aufklärungsarbeit gestaltet sich schwierig. Selbst die „Zentralkartei für Mordsachen und Lehrmittelsammlung“, vom berühmten Berliner Kriminalkommissar Ernst Gennat (1880–1939) aufgebaut, kann nicht weiterhelfen, nur ein Selbstmord ist ausgewiesen: Am 7. April 1944 sprang eine Frau Else B., 1908 geboren in Hohenschönhausen bei Berlin, von der Jannowitzbrücke; die Leiche konnte erst am 25. April 1944 aus der Spree geborgen werden.
Das Ziel des im Januar 1926 als Leiter der von ihm geschaffenen „Mordinspektion“ im Berliner Polizeipräsidium berufenen Gennat war es, Material über Kapitalverbrechen zu erfassen und für die alltägliche Arbeit der Mordermittler auszuwerten. Nach Gennats Tod ist die Sammlung bis Ende des Zweiten Weltkrieges weitergeführt worden. Die Zentralkartei und die dazugehörigen 2442 Akteneinheiten befinden sich heute im Bestand des Landesarchivs Berlin, auch ein Ordner zum Fall Großmann mit einer 24-seitigen Kopie seines handgeschriebenen Lebenslaufes.
Wenn wir schon im Archiv nicht fündig werden, überliefert ist ein Berliner Spottgedicht über einen Mord auf der Jannowitzbrücke:
Herr und Frau Mücke gingen über die Jannowitzbrücke.
Da kam eine Mücke und stach Frau Mücke ins Genicke.
Da nahm Herr Mücke die Krücke und schlug der Mücke ins Genicke.
Das war der Mord auf der Jannowitzbrücke.