von Frank-Rainer Schurich
Mordhäusern ist oft ein trauriges Schicksal zuteil geworden. Entweder wollte dort niemand mehr wohnen, oder sie wurden einfach abgetragen, weil Touristen massenhaft Steine als Souvenirs mitnahmen, Nachbewohner Stimmen hörten und hologrammartige Körper an der Wand sahen. In der heutigen Bartle Road in London gibt es, obwohl die Straße nach den schrecklichen Morden zweimal umbenannt wurde und sogar völlig neu entstand, zwischen den Neubauten Nr. 9 und 11 keine Nr. 10 mehr: Nur eine Brache erinnert uns noch an das Unglückshaus, in dem der Serienmörder John Reginald Christie acht Menschen tötete.
Auch bringen vorsätzliche Tötungen Fetischisten der besonderen Art hervor. So wurde der Holzapfelbaum in Somerset, New Jersey, an dem am 14. September 1922 Reverend Edward Wheeler Hall und die Chorsängerin Eleanor Reinhardt Mills ermordet worden waren, bis auf die letzte Wurzel von Andenkenjägern Tausende von Meilen verschleppt; schließlich kam die ganze Erde abhanden. Aber in London zum Beispiel gibt es, anders als in Berlin, Gedenktafeln für Mordtaten. Zum Beispiel an der Schenke „Magdala Tavern“, an der eine Ruth Ellis den David Blakely erschoss. Die Mörderin wurde als letzte Frau Großbritanniens gehängt. Und was erstaunlich ist, durch zahllose Finger sind die Einschusslöcher am Haus blankgewetzt. Kriminalgeschichte zum Anfassen!
Das ist in der Langen Straße in Berlin-Friedrichshain nicht so. Vor ihrer totalen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg verlief sie durchgehend zwischen Krautstraße und Fruchtstraße (heute Straße der Pariser Kommune) in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs, heute des Ostbahnhofs. Früher war sie eine normale Straßenzeile mit Mietskasernen, Seitenflügeln und Quergebäuden, beidseitig bebaut. Im letzten Krieg völlig zerbombt, finden wir heute einen der längsten Neubaublöcke Ostberlins. Vor und hinter dem Koloss verlaufen parallel zum Block Straßen, die auf beiden Seiten „Lange Straße“ heißen. Nichts, aber auch gar nichts erinnert uns hier an einen grausamen Serienmörder. Karl Großmann wohnte in der Langen Straße 88, 4. Stock des Quergebäudes. Das damals stark verwahrloste Haus befand sich auf der nördlichen Seite der Straße, dort wo der Neubaublock steht, fast genau in der Mitte zwischen Andreasstraße und Krautstraße (heute Aufgang Nr. 83).
Der Kriminalautor Franz von Schmidt beschrieb Großmann so: Die Kriminalsekretäre „standen bei einem scheußlich schmierigen, alten Mann, der mich giftig aus tiefliegenden, starren, kleinen Augen anstierte, als ich stutzte, weil er einen so umwerfend ekelhaften und erschreckenden Eindruck machte. Sein Oberschädel war übergroß, die Nase spitz und gebogen; in den tief eingekerbten Gesichtszügen lag eine Verkniffenheit, dazu eine grinsende Bösartigkeit, wie ich sie nicht wieder gesehen habe.“
In der Nacht vom 21. zum 22. August 1921, also vor 95 Jahren, hatte sich der Arbeiter Mannheim Itzig auf der Polizeiwache in der Andreasstraße 62 gemeldet und ausgesagt, dass aus der Wohnung des Nachbarn, des Händlers Großmann, Geschrei, Wimmern und Stöhnen zu hören sei. Darauf begaben sich zwei Beamte in die Lange Straße 88 und klopften an die bezeichnete Tür. „Ich schlafe schon, kommt morgen wieder!“ rief Großmann ihnen von innen zu. Die Beamten öffneten die Tür mit Gewalt. Im Schein einer trübbrennenden Petroleumlampe sahen sie den neunundfünfzigjährigen Großmann völlig nackt und am ganzen Körper mit Blut beschmiert quer durch die Stube zu einem Schränkchen laufen, aus dem er eine henkellose Tasse nahm. Bevor er die Tasse, die Kaffee mit Zyankali enthielt, aber an den Mund setzen konnte, entriss sie ihm einer der Polizisten. Großmann lief daraufhin zu dem gleich neben der Tür stehenden Bett und hockte sich darauf nieder. Unter der schmuddeligen Decke bemerkten die Beamten einen merkwürdigen Buckel. Großmann konnte nur mit Gewalt vom Bett entfernt werden. Unter der Decke entdeckten die beiden Polizisten eine an das Bettgestell gefesselte, blutüberströmte Frau, die mit schwersten Verletzungen am Kopf und an den Genitalien starb, bevor die Beamten die Fesseln lösen konnten.
Es war von Anfang an klar, dass ein Sadist ersten Grades festgenommen war: die lange gesuchte „Bestie vom Schlesischen Bahnhof“. Bei der Durchsuchung wurden neben Frauenkleidern ein blutiger Sack, eine Bank mit zahlreichen Einschnitten und Spuren menschlichen Gewebes und Blutes, im Kochherd Überreste zweier menschlicher Hände und eines Brustkorbes gefunden – und ein Vogelbauer mit dem Zeisig „Hänschen“. Und es wurde schnell deutlich, dass Großmann, Schlachtergehilfe im Nebenjob, seine Opfer hier fachgerecht zerlegt und die Körperteile mit dem aufgefundenen Sack zur Schillingbrücke oder zum Luisenstädtischen Kanal transportiert hatte. Sowohl in der Spree als auch im Kanal wurden ab 1918 immer wieder Leichenteile gefunden – Köpfe, Arme und Beine. Körperteile fand man auch in Parkanlagen und Abfallbehältern.
Großmann war der Polizei kein Unbekannter. Bis zu seiner Verhaftung im August 1921 hatte er 27 Gefängnis- und Zuchthausstrafen verbüßt; er war wegen Sodomie, Sexualverbrechen an Kindern und wegen zahlreicher anderer Delikte vorbestraft. Wenig bekannt ist, dass die Polizei im Jahre 1914 schon einmal, ebenfalls von einem Nachbarn alarmiert, ein um Hilfe schreiendes 15-jähriges Mädchen aus Großmanns damaliger Wohnung geholt hatte, sich aber mit der Erklärung zufriedengab, er habe dem Mädchen Kleider seiner verstorbenen Frau schenken wollen und nur gesagt, sie möchte sich bitte umziehen und die schönen Sachen anprobieren – das Mädchen habe ihn missverstanden. Die Polizei prüfte nicht einmal, ob die Kleider von Großmanns Frau stammten – er war nie verheiratet gewesen –, und machte sich so zum Komplizen eines Serienmörders. Wäre damals schon sachgerecht ermittelt worden, hätten viele Morde verhindert werden können.
In gewissem Sinne war auch die Justiz ein Komplize Großmanns, die die Gesellschaft nicht vor ihm schützen konnte. Der bekannte Kriminalist und Leiter der Berliner Mordkommission Ernst Gennat nannte das gewöhnlich „behördliche Hilfe bei Mord“, „denn die moralische Mitschuld an den zahllosen Morden Großmanns trägt die Justiz, die diese unverbesserliche Bestie immer wieder auf andere Menschen, die zu schützen sie bestellt war, losließ“. So formulierte es der schon genannte Franz von Schmidt. Es ist nie genau geklärt worden, wie viele Frauen Großmann wirklich tötete. Die Staatsanwaltschaft begnügte sich mit der Anklage in den drei restlos erwiesenen Fällen, in denen auch Geständnisse des Mörders vorlagen, und verhinderte so weitere kriminalistische Recherchen. Man geht von zirka zwanzig Opfern aus.
Am 1. Juli 1922 begann vor dem Schwurgericht I des Landgerichtes Berlin in Moabit die Verhandlung. Zahlreiche Frauen, Prostituierte, ehemalige „Wirtschafterinnen“ und arbeitsuchende Mädchen aus der Provinz, die Großmann in seine Wohnung lockte, berichteten von seinen sadistischen Sexualpraktiken. Der Mörder bemühte jedoch den Henker nicht. Zwischen zwei Verhandlungstagen, am 5. Juli 1922, erhängte sich Großmann mit einem Handtuch an dem Riegel der Zellentür, der eigentlich zum Aufhängen von Besen und Müllschippe diente. Sein Zeisig „Hänschen“ wurde die Attraktion der Gefängnisannahmestelle und überlebte seinen Herren um zwei Jahre.
Nach Großmanns Freitod rankten sich viele Legenden um den multiplen Mörder. Sicher scheint zu sein, dass er mit den Kleidern seiner Opfer einen Handel trieb; auch Nachbar Itzig, der ja die Polizei alarmierte, stand im Verdacht, für Großmann Bekleidungsstücke verscherbelt zu haben. Aber dass er auch das Fleisch seiner Opfer „verwurstete“ und zu Buletten verarbeitete, wie oft behauptet wird, ist nicht bewiesen.
In der Langen Straße gibt es keine Gedenktafel für die Opfer von Karl Großmann, auch wird dort kaum jemand Stimmen hören oder hologrammartige Bilder an der Wand sehen. Der Kriminalfall ist vergessen. Eine Bewohnerin der Nr. 83, die kürzlich vom einem rbb-Reporter gefragt wurde, was sie dazu sagt, dass hier einmal der Serienmörder Großmann blutig mordete, antwortete nach kurzem Überlegen: „Das ist doch Vergangenheit. Heute, heute ermitteln Sie mal die ganzen Mörder und Kriminellen!“
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