von Jörn Schütrumpf
„Liebknechts Standpunkt ist der gleiche wie immer: ein Sprung nach rechts, einer nach links“, beklagte sich im März 1910 Rosa Luxemburg bei dem Mann, der einst ihr Lehrer und Geliebter, unterdessen längst jedoch zu ihrem Alter ego geworden war: bei Leo Jogiches, dem weitgehend unsichtbaren Konspirateur aus Litauen. Ermordet wurden am Ende alle drei. Nur nennt man bis heute nicht etwa Rosa Luxemburg und Leo Jogiches in einem Atemzug, sondern Karl Liebknecht, den Sohn des SPD-Parteigründers, und die in Zürich promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin, eine ebenso glaubenslose wie ungläubige Jüdin aus Warschau.
Darüber regte sich einst schon Mathilde Jacob auf. Anders als für Jogiches gibt es für diese Ur-Berlinerin, die als Siebzigjährige im KZ Theresienstadt Opfer des Holocausts wurde, aber immerhin ein Denkmal; sogar ein Rathausvorplatz trägt ihren Namen (gegen die Stimmen der CDU-Fraktion; die AfD konnte damals – 1995 – noch nicht mitstimmen …). Seiner eigenen Partei war Jogiches – mangels deutschen Personals ab 1916 der Führer der Spartakusgruppe (während des Krieges saß Rosa Luxemburg die meiste Zeit in Haft) – nur die Verzeichnung auf einer Sammeltafel in Friedrichsfelde wert; bis heute. Es ist endlich an der Zeit, wenigstens einen Stolperstein zu legen – in Neukölln, wo in der Nacht vom 9. zum 10. März 1919 Angestellte des deutschen Staates Leo Jogiches aus seiner Wohnung holten und in einem ordentlichen deutschen Gefängnis mit einem Schuss von hinten in den Kopf ermordeten. Bewahrenswertes deutsches Handwerk, in der Stalinschen Kommunistenverfolgung ab 1936 auf der russischen Seite ebenso aufgegriffen wie auf der deutschen Seite 1941 an zehntausend sowjetischen Soldaten wiederholt. Beide Regime verband eben nicht nur der Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 …
Leo Jogiches, dessen Muttersprache Russisch war, saß als Vertreter der zwischen 1906 und 1912 freiwillig der russischen Sozialdemokratie angeschlossenen polnischen Sozialdemokratie im russischen Zentralkomitee. Dort ging es nicht immer friedlich schiedlich zu. Zwar war sich der Banker-Spross aus Wilna, dem „Jerusalem des Nordens“, mit Lenin, dem russischen Adligen mit Wurzeln bis nach Mecklenburg, in der revolutionären Entschlossenheit einig, in der Haltung gegenüber dem eigenen Anhang jedoch waren sie einander spinnefeind. Autoritär waren übrigens beide, Jogiches dazu noch etwas unbeherrschter als der Simbirsker. Doch Jogiches wollte die Geknechteten und Gedemütigten zu selbstbewusstem Handeln ermächtigen, während es dem anderen genügte, sich selbst zu ermächtigen, um die Geknechteten und Gedemütigten per „demokratischem Zentralismus“ zu lenken. Rosa Luxemburgs Kritik an Lenin und den Bolschewiki deckte sich mit der von Leo Jogiches, sprachlich war sie etwas verfeinerter:
„Wir sind nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen, das heißt nur: Wir unterscheiden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit – nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen.
Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, an Stelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat.“
Das schrieb die Polin auf Deutsch, daneben verfasste sie Texte natürlich auf Polnisch, aber auch auf Russisch und Französisch, sie sprach Italienisch und las Englisch; Latein und Altgriechisch beherrschte damals ohnehin noch jedes – gebildete – Kind. Daran gemessen gehören heutige Historiker und Journalisten, der Autor dieses Textes eingeschlossen, zu den „bildungsfernen Schichten“.
Doch noch einmal zurück zu Mathilde Jacob: „Karl Liebknecht hatte mich seit Jahren zu politischen Hilfsarbeiten herangezogen. Ich bewunderte seinen Mut und seine Ausdauer, ich schätzte seine stets gleichmäßige, freundliche und kameradschaftliche Art. – Die Zusammenarbeit zwischen ihm und Rosa Luxemburg wurde immer enger. Insgeheim wünschte ich, beide wären weniger unzertrennlich gewesen. Auch wuchs die politische Bedeutung Karl Liebknechts über ihn hinaus, stets wurde er mit Rosa Luxemburg gemeinsam genannt. Sein politisches Auftreten wurde immer kühner, oft aber waren seine Handlungen tollkühn und nicht frei von Eitelkeit.
Gelegentlich sprach ich mit Rosa Luxemburg kritisch über Karl Liebknecht, und sie sagte daraufhin: ‚Vergleichen Sie ihn nicht mit Leo Jogiches, wie Sie es zu tun pflegen, vergleichen Sie ihn mit deutschen Genossen, und Sie werden sehen, wie hoch er über ihnen steht. Außerdem sollten Sie Lassalle fleißig lesen, Sie können viel dabei lernen; auch er war eitel.‘ – Sie selbst kannte ihren Lassalle und liebte ihn.“
Mathilde Jacob wurde am 13. Januar 1919 vor der Redaktion der Roten Fahne verhaftet; man hielt sie für Rosa Luxemburg. Mathilde Jacob überlebte, weil sie ihre wirkliche Identität beweisen konnte – während zwei Tage später Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg versuchten, ihre wirkliche Identität zu verbergen. Was ihnen nicht gelang …
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