von Lars Niemann
Neuerdings wird in den verschiedensten Zusammenhängen oft von einem Elefanten (häufig auch noch weiß) gesprochen, der da im Raum stünde. Gemeint ist damit meistens, dass bei der Diskussion eines Problems der wichtigste Faktor außer Acht gelassen wird.
Ich habe den Verdacht, dass bei der Suche nach Erklärungen für die allgemein als „Rechtsruck“ bezeichnete Entwicklung und bei der Suche nach geeigneten Gegenstrategien ein solch großes Tier ebenfalls übersehen wird. Unbestreitbar ist ein in vielen Ländern steigender Zuspruch für nationalistische, rassistische, marktradikale und autoritäre Konzepte. Die Gegenkräfte, vor allem die ohnehin überwiegend schwache und zersplitterte politische Linke, sind nahezu überall in der Defensive.
Zur Erklärung des Rechtstrends werden individual- und massenpsychologische, historische, soziologische und ökonomische Ansätze gewählt, und vermutlich sind viele von ihnen auch zutreffend, denn bestimmt gibt es nicht nur den einen Grund. Was ich aber vermisse, ist die Anerkennung der existentiellen Krise, in der „wir Menschen“ (kleiner kann und will ich es nicht ausdrücken) uns befinden. Einer Krise, derer wir uns mehrheitlich noch gar nicht genügend bewusst sind, die uns vor Herausforderungen stellt, für deren Bewältigung wir aufgrund ihrer Neuheit nicht auf historische Erfahrungen zurückgreifen können und die wir keineswegs sicher sein können zu bewältigen.
Diese Krise wird durch zwei eng verzahnte, potentiell fatale Entwicklungen bestimmt. Zum einen ist es die Zunahme der Bevölkerung. Die bloße Zahl von im Dezember 2018 geschätzt schon fast 7,7 Milliarden und für die absehbare Zukunft vorausgesagt neun Milliarden Menschen auf der Erde ist aus ökologischer Sicht schlichtweg eine Katastrophe. Dieses Bevölkerungswachstum geht nicht nur auf hohe Geburtenraten zurück, sondern ebenso auf die ständig steigende Lebenserwartung in fast allen Ländern, selbst den ärmeren. Ihr zahlenmäßiger Zuwachs und das höhere Alter, das die Menschen im Durchschnitt erreichen, führen zwangsläufig zu einem erhöhten Ressourcenverbrauch. Gesteigert wird dieser noch durch die nachholende Nachfrage nach materiellen Gütern in früher ärmeren Weltteilen aufgrund des auch dort zunehmenden Wohlstands, den wir, man sollte es schon fairerweise zugeben, vor allem dem entfesselten Kapitalismus verdanken. Und auch in den traditionell reichen Ländern benötigen die Menschen immer mehr Raum und Energie zur Selbstverwirklichung und zum bequemen Leben.
Wer nicht gleich versteht, was ich damit meine, sollte sich mal auf einem beliebigen europäischen Flughafen umsehen. Sollte sich erinnern, wie klein in den 1990er Jahren ein VW Polo oder ein „Mini“ im Vergleich zu heutigen Autos derselben Marken waren. Sollte sich überlegen, wie viel Wohnraum die Patchwork-Familie unserer Tage im Vergleich zum Auslaufmodell der klassischen Kernfamilie benötigt und beansprucht.
Es ist eine große Tragik, dass Errungenschaften, von denen die Menschheit Jahrtausende geträumt hat (alt zu werden, die Kindersterblichkeit signifikant zu senken, den Anteil der Hungernden deutlich zu reduzieren und nicht zuletzt über das eigene Leben weitgehend frei entscheiden zu können), nun zu einer immer stärkeren Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen führen. Und gleichzeitig die zweite Bedrohung anheizen: den Klimawandel. Von dem wir in diesem, nicht enden wollenden Sommer mit seiner Trockenheit auch schon mal im ansonsten von allem Unbill verschonten Deutschland einen Vorgeschmack bekommen haben.
Zumindest der Klimawandel wird natürlich thematisiert, aber zu wenig im Zusammenhang mit der besorgniserregenden politischen Entwicklung. Könnte es sein, dass die Anhänger von rechten Parteien sich dieser Bedrohungen, vielleicht unbewusst, stärker gewahr sind als wir anderen, die wir uns davor noch längst nicht genug fürchten? Dabei spielt es keine Rolle, wenn Präsident Trump oder irgendwelche AfD-Politiker den Klimawandel leugnen oder zumindest in Frage stellen, dass er menschengemacht ist. Entscheidend ist das Gefühl einer Krise. Denn was bedeuten Bevölkerungswachstum und Klimawandel für die Zukunft?
Bevor die Ökosysteme in Westeuropa und Nordamerika, deren umweltschädliche Industrien weitgehend in unglücklichere Weltgegenden ausgelagert worden sind, irgendwann auch kollabieren, wird es aus den wegen des Klimawandels zunehmend unbewohnbar werdenden und gleichzeitig überbevölkerten Regionen des globalen Südens eine Flucht- und Wanderungsbewegung von heute nicht abschätzbarem Ausmaß geben. Die Folge werden weltweite Verteilungskämpfe um die knappen Ressourcen sein, die mit dem alten Modell „Klassenkampf“ nicht zu erklären sind. Die nationalistischen und protektionistischen Rechten versuchen, die reichen Länder abzuschotten und die „Anderen“ sich selbst überlassen. Vermutlich zutreffend betrachten sie Flucht und Migration als Vorhut der globalen Armutswanderung. Nach dem Motto „Wehret den Anfängen“ nutzen sie Unterschiede in Kultur, Verhaltensweisen und Religion als Argumente für eine strikte Abwehr dieser Menschen.
Das ist zwar auf die Dauer keine Lösung, da „wir“ ja von der Ausbeutung dieser „Anderen“ leben und der Klimawandel uns einholen wird, aber damit verbunden ist das Versprechen des Zeitgewinns. Zumindest zu den eigenen Lebzeiten, vielleicht auch noch in der Generation der eigenen Kinder, soll alles materiell so bleiben wie es ist. Ein ähnlicher Gedanke treibt vielleicht auch viele aktive junge Männer in den armen Ländern, die jetzt noch versuchen, nach Europa oder in die USA zu gelangen, bevor es irgendwann ganz unmöglich wird und die Grenzen dicht sind. Sie wären dann „schon da“.
In Deutschland ist Angela Merkel über lange Zeit als Garantin dafür gewählt worden, den Menschen hierzulande die steigende Unsicherheit in der Welt vom Leibe zu halten und das Land unbeschadet durch alle Fährnisse wie die Finanzkrise zu steuern. Dabei war sie auch ziemlich erfolgreich. Selbst von den Krisen hat Deutschland profitiert. Nun haben viele Bürger aber das Gefühl, die Kanzlerin brächte das nicht mehr – und deshalb soll sie weg.
Dafür gibt es noch einen anderen Grund. Dem gesamten politischen System der parlamentarischen Demokratie wird nicht mehr zugetraut, mit der globalen Krise umgehen oder sie gar bewältigen zu können. Es wird als schwach und weitgehend handlungsunfähig empfunden, wozu in Deutschland in letzter Zeit etwa das Aussitzen des Diesel-Betrugs der Autoindustrie oder die Dauerfehde zwischen Seehofer und Merkel beigetragen haben.
In Krisenzeiten hatte der Wunsch nach autoritärer Führung schon immer Konjunktur. Es wäre eher erstaunlich, wenn es in einer so existenziellen und weltweiten Krise anders sein sollte. Und richtig autoritär herrschen können vor allem die Rechten. Das lehrt nicht nur die deutsche Geschichte. Linker Autoritarismus stößt schon wegen der sich regelmäßig einstellenden Mängel in der materiellen Versorgung (das kann man von der Jakobinerherrschaft in Frankreich bis heute nach Venezuela verfolgen) rasch auf massenhafte Ablehnung, rechter Autoritarismus hingegen kann über Jahrzehnte Herzenssache der Mehrheit bleiben, da materielle Bedürfnisse besser erfüllt werden und die Ideologie eingängiger ist. (Für Besitzverhältnisse interessieren sich nun mal weniger Menschen als sich vor Leuten mit anderer Hautfarbe, Sprache, Sitten und Religion fürchten. Das ist vermutlich als verhaltensbiologisches Muster evolutionär angelegt.)
Wenn wir es aber tatsächlich mit einer komplett neuen Situation der Menschheit zu tun haben und wir den Umgang damit nicht den Rechten und Nationalisten überlassen wollen, muss die politische Linke im weitesten Sinne eine glaubhafte Perspektive zur Bewältigung der globalen Probleme entwickeln. Ansätze dafür sind aber kaum zu erkennen. Wie können Mehrheiten davon überzeugt werden, dass sie ihren Ressourcenverbrauch reduzieren müssen und trotzdem gut leben können? Und ist das überhaupt möglich? Niemand weiß es. Doch nach Antworten müssen wir suchen, und eine schonungslose Betrachtung der Weltlage ist als Ausgangspunkt unabdingbar.
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