21. Jahrgang | Nummer 26 | 17. Dezember 2018

Vor 90 Jahren: Wo fängt Gotteslästerung an?

von Jürgen Lauer

Im Dezember 1928 erschienen in der Weltbühne zwei Beiträge, die sich auf ein viel diskutiertes Delikt bezogen, das der Gotteslästerung. Der Autor des ersten Beitrags war Walter Hasenclever. Seine Komödie „Ehen werden im Himmel geschlossen“, die seit ihrer Berliner Uraufführung im Oktober jenes Jahres dort unbeanstandet vor vollem Hause gespielt wurde, stieß in Frankfurt am Main auf heftigen Widerspruch. Presseartikel, Protestansprachen im Theater, Stinkbomben gegen die Schauspieler und eine Versammlung in der Paulskirche waren Tagesgespräch. Worin bestand die Gotteslästerung?
Der „liebe Gott“ erschien auf der Bühne in Sportkleidung mit Monokel und kündigte seinen Rückzug in die Pensionierung an. Die Menschen hätten ihn erfunden, um ihn verantwortlich zu machen für ihre eigene Unfähigkeit, Probleme zu lösen. In seinem Weltbühne-Beitrag verwahrte sich Hasenclever gegen den Vorwurf, Gott gelästert – also beschimpft – zu haben, mit dem Argument, die Vereinnahmung Gottes als oberstem Armeeführer für das organisierte Morden in vier Kriegsjahren bedeute die eigentliche Gotteslästerung. Mit diesem Argument hatte er viele Künstler auf seiner Seite. George Grosz hatte für die Piscator-Inszenierung der „Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ satirisches Bildmaterial angefertigt, auf dem unter anderem ein Geistlicher von der Kanzel statt Worte Geschosse aussendet, und Christus in Soldatenstiefeln und mit Gasmaske vor dem Gesicht am Kreuz hängt. Grosz musste dafür 2000 Reichsmark Strafe bezahlen.
Auf diese beiden Vorkommnisse bezieht sich der zweite Weltbühne-Beitrag unter dem Titel „Die Einrichtung Christus“. Er stammt von dem österreichischen Schriftsteller und Literaturkritiker Franz Blei: „Indem der Zeichner Grosz Christus mit Gasmaske und Kommiss-Stiefeln ausstattete, […] hat er nach Staatsanwalt und Richter ‚eine Einrichtung der Kirche verspottet‘. Dass Christus eine Einrichtung, institutio, ist – die Sachwalter heutiger Christenheit könnten ihre Haltung zum Begründer der christlichen Religion wahrhaftig nicht besser ausdrücken, auch nicht ahnungsloser und unbeteiligter.“
Waren Hasenclever und Grosz im Recht, wenn sie die Geistlichkeit beider Kirchen in dieser Weise kritisierten? Es ist nun mal eine Tatsache, dass Gott in beiden Kirchen für die kriegerischen Erfolge in Anspruch genommen wurde, nicht nur in der 3. Strophe des Liedes „Großer Gott, wir loben dich“: „Heilig, Herr Gott Zebaoth, heilig, Herr der Kriegesheere.“ Homiletische Anregungen in Form von Musterpredigten sahen im Kriegsjahr 1915 Texte vor wie: „Es gibt einen Gott! Wir [Soldaten – J.L.] haben ihn gesehen und gefühlt, gefürchtet und geliebt im Schlachtendonner, im Schützengraben, im Lazarett, am Massengrab! Das ist der große Gottesbeweis, den der Weltkrieg uns geliefert hat. Der Soldat hat das letzte Wort! War nicht der Gekreuzigte selbst ein ‚Kriegsmann‘ sein Leben lang?“ Und aus der Anrufung des Heiligen Georg: „Sei unseres Volkes täglicher Kriegsprediger! Heiliget den Krieg, bietet Helden auf, auch der Schwächling sage: Ein Held bin ich!“
Die Mundgeschosse aus der bitteren Grosz-Karikatur waren also durchaus zu versprachlichen.
Der theologische Diskurs und die juristische Diskussion zu diesem Thema wurden auch von der politischen Agitation vereinnahmt. Am 10. Dezember 1928 berichtete die Nazizeitung Völkischer Beobachter zu der erwähnten Kundgebung gegen Hasenclevers Stück: „Es sprach am Schluss […] der nationalsozialistische Stadtverordnete Gemeinder, stürmisch von der Menge verlangt, und protestierte gegen den Niedergang in Theater und Literatur. […] Die von vielen hundert Menschen besuchte Kundgebung wurde gänzlich zu einer nationalsozialistischen, […] am Schluss wälzte sich eine breite und lange Masse von Demonstranten unter unserer Führung durch die engen Straßen Frankfurts und zog unter Gesang durch die Hauptstraßen.“
Unter denen, die Hasenclevers Komödie für eine strafwürdige Tat hielten, mochte es manche geben, die einen Vergleich herstellten zu der satirischen „Himmelstragödie“ des Arztes Oskar Panizza „Das Liebeskonzil“. Dieses zeigt Gottvater, wie er, alt und hilflos, angesichts der Sünden der höfischen Gesellschaft Venedigs auf seinem Thron, Wutanfälle bekommt, die aber keine Wirkung erzeugen, wessen er sich auch bewusst ist: „Die Menschen wissen, dass sie da unten unter sich sind […] und mich nicht mehr brauchen.“ Diese Fratze eines hilflosen Greises aber, so betonte der Dichter, sei nur in dem Kontext zu sehen, dass durch die Denk- und Handlungsweise der Menschen die Gottesidee selbst pervertiert werde. Der Autor wurde vor dem königlichen Landgericht München am 20. März 1895 wegen Vergehens gegen die Religion zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.
In seiner Verteidigungsrede hatte Panizza auch auf Autoren verwiesen, die nach seiner Auffassung weitaus kühnere und frechere dichterische Satireausflüge in die Glaubenswelt unternommen hatten, wie etwa Evariste de Parny mit seinem 1799 verfassten Gedicht „La Guerre des Dieux“, in dem die göttliche Dreieinigkeit bei den Olympiern zu Gast ist: Zeus richtet ein paar höflich-kalte Komplimente an die Besucher. Gottvater will etwas erwidern, aber es fällt ihm nichts ein, so nimmt er, sich mit einem hilflosen Lachen verbeugend, auf der Bank Platz.
Auch Hasenclever verweist in der Rechtfertigung seiner Darstellung des – wohlgemerkt „lieben“ – Gottes darauf, dass er ja nur den Gott auf die Bühne stellt, den sich die Menschen „gemacht“ haben. Und dies satirisch darzustellen, heiße nicht, Gott – in welcher Glaubensvorstellung auch immer – zu lästern.
Der Dichter Klabund bekam für sein Bettelgedicht „Die Heiligen drei Könige“ wegen Gotteslästerung den Prozess gemacht.
Aber es gab durchaus unterschiedliche Rezeptionen solcher Darstellungen Gottes auf der Bühne. In Ferenc Molnárs erfolgreichem Stück „Liliom“ trat der liebe Gott als „Konzipist“ persönlich auf, mit Fanfaren der Engel, himmlischen Detektiven und Schutzleuten. Er hatte einen langen weißen Bart und einen kahlen Schädel mit schneeweißem Haarbüschel und verfuhr streng und gütig zugleich mit den Selbstmördern. Das Stück wurde anfangs aus unterschiedlichen Gründen verrissen, aber nie wegen Gotteslästerung kritisiert.
Die juristische Auseinandersetzung um den Gotteslästerungsparagraphen StGB 166 war seit der Verabschiedung der Weimarer Verfassung nie abgerissen und sollte auch über den hier angesprochenen Zeitraum hinausgehen. In einem Artikel der Weltbühne vom Oktober 1930 erinnerte Kurt Hiller, deutscher Schriftsteller und Publizist, an die juristische Problematik, um welches Rechtsgut es denn eigentlich gehe:

  • einen Schutz für Gott als Glaubenswahrheit oder als eine Institution oder
  • für die Religionsgesellschaften oder deren Vertreter oder
  • für das religiöse Gefühl, wie immer das zu definieren sei.

Hiller wusste, wovon er sprach. Er war an der Universität Heidelberg zum Dr. jur. promoviert worden: „Jährlich werden in Deutschland (nach 1918, wohlgemerkt) gegen vierhundert Anklagen wegen ‚Gotteslästerung‘ erhoben. Kaum vorstellbar, dass irgendwann irgendwo zwischen Geiststandard und Staatswirklichkeit einer Nation eine breitere Kluft geklafft hat.“
Der Regierungsentwurf von 1927 brachte in der ersten Lesung im Strafrechtsausschuss des Reichstags eine Änderung. Der Paragraph lautete hernach: „Wer öffentlich eine im Reich bestehende Religionsgesellschaft des öffentlichen Rechts in gemeiner Weise beschimpft, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Die Tat wird nur mit Zustimmung der beteiligten Religionsgesellschaft verfolgt.“
Diese Fassung, so hebt Hiller hervor, bedeute drei Verbesserungen und eine Verschlechterung. Die Worte „wer Gott lästert“ fehlten (also missliebige Ontologie, Atheismus oder Antitheismus als solche sollten nicht mehr strafbar sein); die Beschimpfung der Institution müsse „in gemeiner Weise“ erfolgen und das Strafmaximum sei von drei Jahren auf zwei Jahre herabgesetzt. Dafür bedeute die „Zustimmung der beteiligten Religionsgesellschaft“ deren Bevorzugung als allein maßgebenden Sachverständigen und damit indirekt die Funktion des Richters. Aus dem Gotteslästerungsparagraphen sei somit ein Kirchenlästerungsparagraph geworden.
Aber wer sollte nach dem Zusammenbruch alter Wertsysteme und Traditionen, der Zerstörung von Lebensgrundlagen durch Inflation und Arbeitslosigkeit, dem Wegbrechen alter Autoritäten und der Fragilität neuer Identitätsangebote, im Widerstreit politischer Grundauffassungen in dieser an politisches Mitdenken noch nicht gewöhnten Gesellschaft eine Orientierung geben?
Der spätere Historiker Golo Mann, der zu eben dieser Zeit bereits Jura studierte, stellt in seiner „Deutschen Geschichte“ die Rolle der christlichen Kirchen in den Kontext der allgemeinen Verunsicherung nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs: „Ganze Bevölkerungsklassen wurden enteignet, ein uraltes Vertrauen zerstört und ersetzt durch Furcht und Zynismus. Von Linksliteraten gab es in Berlin eine Menge und hochbegabte darunter. Die hellsichtige Bosheit, mit der Kurt Tucholsky die Republik verspottete, erinnerte von ferne an Heinrich Heine. Und so grimmig diese ungebundene Linke die Republik verhöhnte, und so wenig sie mit der Sozialdemokratie zu tun hatte, so wurde sie auf der Rechten doch als ein typischer Ausdruck des ‚Systems‘, der ‚Asphaltliteratur‘ oder der ‚jüdisch-zersetzenden Intelligenz‘ empfunden. Die Soziologie war ein fragwürdiger geistiger Bundesgenosse der Demokratie. Es kam Ideen und Werten keine eigene Wahrheit zu; man zeigte, welche Interessen sie markierten, woher sie kamen und warum sie scheitern mussten. Das konnte die geistige Krise nicht überwinden, von der man so gerne sprach. Und als die wirkliche Krise kam (Nationalsozialismus gegen Kommunismus), war sie [die Soziologie – J.L.] unfähig, die Dinge zu verstehen, geschweige denn, ein Hort des Widerstandes zu werden. Um wie viel hilfreicher waren hier die alten Zentren des Glaubens und der Tradition, die christlichen Kirchen.“
Nur wenige Jahre später bekamen die Kirchen ganz andere Probleme als die Verfolgung von Gottesdarstellungen auf Bühnen.
Aber das ist ein anderes Thema.