von Stephan Jakubowski
„Ich hab’ geträumt, der Winter wär vorbei.
Du warst hier und wir waren frei.“
Rio Reiser
Der Traum ist aus. Zumindest derzeit könnten wir hierzulande und erst recht global gesehen kaum weiter entfernt sein von der Freiheit, dem Frieden und dem Paradies, die Reiser besang. Sein Wunsch, in einer Welt der Gerechtigkeit aufzuwachen, hat sich nach wie vor nicht erfüllt.
Ein anderer träumt ebenfalls einen Traum, und der hat leider größere Chancen, wahr zu werden. Herbert Reul (CDU), Innenminister Nordrhein-Westfalens, hat eine Vision von einer neuen strategischen Ausrichtung des Verfassungsschutzes. Der Inlandsgeheimdienst, der sich zuletzt sowohl auf Länder- wie Bundesebene immer wieder mit dem bewährten Mix aus Lüge, Gedächtnisverlust, Schwärzen und Schreddern vor allem selbst zu schützen wusste, braucht laut Reul ein Umdenken. Dabei geht es dem CDU-Politiker aber nicht etwa um eine Demokratisierung, Transparenz oder gar eine Aufarbeitung der zahllosen Affären und Verstrickungen wie beispielsweise im NSU-Komplex. Es geht ihm darum, im Verfassungsschutz der Zukunft die „Verengung des Blicks auf gewaltorientierte extremistische Akteure“ zu erweitern und „auch nicht gewalttätige Gruppen [zu] überwachen“, wie es im Interview mit der Süddeutschen Zeitung heißt. Was Reul darunter versteht? Der Verfassungsschutz sei seiner Auffassung nach nicht nur bei der Terrorabwehr, sondern auch gesellschaftspolitisch eine wichtige Einrichtung. Konkret will der NRW-Innenminister „die ganze Bandbreite“, denn in seinem Verständnis sind Terroristen das Produkt einer langen kausalen Entwicklungskette. Um diese nun besser zu verstehen und um einen „tiefenscharfen Blick“ zu erreichen, sollen daher auch die Milieus, aus denen sie kommen, die „den politischen Nährboden, die sogenannte Sympathisantenszene“ bilden, stärker überwacht werden.
Aha. Hat da etwa doch jemand aus den Ungeheuerlichkeiten beim NSU gelernt? Nein! Als Reul nach einem Beispiel gefragt wird, nennt er die vermeintlich staatsfeindliche Linksjugend der Partei DIE LINKE, die man überwachen sollte, und den Hambacher Forst, zu dem manche nicht „wegen Wald, Klima oder Kohle hinfahren, sondern für einen antikapitalistischen Kampf“, und unterstreicht, wie nützlich es sei, mehr über Demo-Anmelder und sonstige Unterstützer zu wissen. Dem Innenminister bereiten also Menschen, deren politisches Engagement einem solidarischen Miteinander gilt oder die sich Konzerninteressen größtenteils friedlich entgegenstellen deutlich mehr Bauchschmerzen als die Tatsache, dass sich seine Argumentation auch gut auf ein offensichtlich breites Unterstützernetz des NSU, auch in NRW, anwenden ließe. Dort hat dieser immerhin reichlich Blut vergossen und zudem kam es beispielsweise in Dortmund wiederholt zu Messerübergriffen auf Antifaschisten mit teils tödlichem Ausgang. Kein Wort dazu von Reul.
Nicht nur werden hier also Klimaaktivisten und die Parteijugend der LINKEN schnell in einen Topf mit Terroristen geworfen. Reul gelingt, woran Linke bislang gescheitert sind: Er schafft es, den Kampf im Hambacher Forst für Klima und gegen den Kohleabbau vom Kampf gegen den Kapitalismus zu trennen. Es scheint hier für den Minister kein Zusammenhang zu bestehen zwischen kapitalistischer Ordnung und Ausbeutung von Mensch und Natur. Vielleicht sollte er mal etwas von dem lesen, was an Inhalten und Argumentationen in der Szene auch ganz frei und ohne Geschnüffel zur Verfügung gestellt wird.
Weiter heißt es bei Reul, der Verfassungsschutz müsse sich noch stärker als „Frühwarnsystem“ etablieren. Und bei der Begründung dieser Aussage gelingt dem Mann ein wirklich großer Wurf – in einem Film könnte man von einem Twist, einer unerwarteten Wende sprechen: Rechtsextremisten sei der Brückenschlag in die Mitte der Gesellschaft gelungen und dass dies auch öffentlich wahrgenommen und diskutiert werde, sei ein Verdienst des Verfassungsschutzes. Ein Paukenschlag! Wäre dies eine Film-Szene, gäbe es hier eine dramatische Pause und das Publikum würde beginnen zu spekulieren: Könnte Hans Georg Maßen etwa doch falsch verstanden worden sein? Hat er sich womöglich für die öffentliche Sensibilisierung dieses Themas quasi selbst geopfert? Wird es ein Comeback geben?
Leider wird es nach dieser Pointe wieder ernst. Reul, der Befürworter einer Verschärfung des Polizeiaufgabengesetzes (PAG), wünscht sich eine intensivere Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Polizei, um die jeweiligen Kompetenzbegrenzungen zu umgehen. Völlig richtig fragt der Interviewer, ob das „nicht gemogelt“ sei, und der Autor fragt sich sogar, ob das nicht ein bisschen sehr euphemistisch gefragt ist angesichts dieser leichtfertig formulierten Umdeutung von rechtsstaatlichen Grundbedingungen einer klaren Trennung von Institutionen zum Schutz der eigenen Bevölkerung. Gab es das nicht schon mal in Deutschland, so einen Bastard aus Geheimdienst und Polizei?
Der Minister bemerkt den bitteren Beigeschmack seiner Aussage und kommt selbst darauf zu sprechen: man solle zwar nachrichtendienstliche Erkenntnisse von deutlich mehr Menschen sammeln als bisher und die Weitergabe von Ergebnissen an die Polizei barrierefreier funktionieren lassen, damit diese dann ihren ausgeweiteten exekutiven Befugnissen im Rahmen eines zu erwartenden neuen PAGs nachkommen könne. Aber eine Neuauflage der Gestapo wolle man nicht.
Das verwirrt eher als dass es beruhigt. Und so hakt auch der Interviewer nach, dass die Gestapo „Menschen nicht wegen deren Straftaten verfolgt hat – sondern wegen deren Meinungen. Zum Beispiel Sozialisten.“ Da trumpft der Visionär noch mal mit einer Pointe auf: „Diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Heute wird in Deutschland niemand mehr wegen seiner politischen Überzeugungen verfolgt. Extremisten müssen sich allerdings gefallen lassen, dass sie zum Schutz der Demokratie vom Verfassungsschutz beobachtet werden.“
Wir erinnern uns, dass der gleiche Mann weiter oben davon sprach, Sympathisanten und „nicht gewalttätige Gruppen“ wie die Linksjugend überwachen zu lassen. Zudem erfolgt die Einstufung, wer Extremist oder Gefährder ist, durch die Sicherheitsbehörden selbst, und von einer klaren rechtlichen Definition dafür ist bei Reul keine Rede.
Auf dieser vagen Grundlage darf in Bayern bereits eine theoretisch unbegrenzte Präventivhaft angewendet werden, auch ohne dass Straftaten begangen wurden. Dass dies nicht nur düstere Zukunftsmusik ist, zeigt eine Anfrage der Grünen im bayerischen Landtag, die ergab, dass bis August dieses Jahres elf Personen länger als zwei Wochen ohne Anklage im Gefängnis saßen. Derzeit wird dies als bundesweite Lösung diskutiert. Ein Albtraum!
Vor diesem Kontext kommen die Träume von Reul und Reiser also doch noch auf einen gemeinsamen Nenner. Er liegt im Schlussteil des Liedes:
„Gibt es ein Land auf der Erde,
Wo dieser Traum Wirklichkeit ist?
Ich weiß es wirklich nicht.
Ich weiß nur eins und da bin ich mir sicher:
Dieses Land ist es nicht.“
Schlagwörter: Herbert Reul, Rio Reiser, Stephan Jakubowski, Verfassungsschutz